Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Chronikbeitrag aus: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 64 (2016), H. 4 S.

Verfasst von: Hans Hecker

 

Von der „mühseligen Annäherung an die geschichtliche Wirklichkeit“.

Vor hundert Jahren wurde Günther Stökl geboren.

Fünfundzwanzig Jahre lang, von 1966 bis 1991, hat Günther Stökl die Jahrbücher für Geschichte Osteuropas herausgegeben, das heißt, er hat sie zu dem gemacht, was die nachfolgenden Herausgeber und Autoren, die Redaktion und der Verlag als verpflichtendes Erbe seither fortzuentwickeln und weiterzugeben haben. So mag es berechtigt erscheinen, dass man die Zurückhaltung in puncto Jubiläen in diesem Fall aufgegeben hat, um seines hundertsten Geburtstages zu gedenken. Günther Stökl wurde am 16.1.1916 in Wien geboren, er starb am 20.3.1998 in Köln.

Um mit einigen biographischen Streiflichtern zu beginnen: Seine evangelische Grundierung – sein Vater bekleidete als Pfarrer leitende Ämter in der evangelischen Kirche Österreichs – offenbarte er an sich erst im persönlichen Gespräch. Wenn er seine Überzeugung allerdings in blasphemischer Manier angegriffen sah, konnte Günther Stökl seinen Protest durchaus engagiert äußern. Das galt entsprechend auch für andere Bereiche, insbesondere für seine geradezu sensorische Empfindlichkeit gegenüber allem, was irgendwie nach nationaler Überheblichkeit jeglicher Art roch. Auch diese Grundhaltung hatte er aus dem Elternhaus mitbekommen, und der tosende Jubel auf dem Heldenplatz beim „Anschluss“ Österreichs, der bis zu seinem Elternhaus schallte, hallte ihm lebenslang nach. In der Musik war ihm Wagner ein Gräuel, seine Liebe galt der Wiener Klassik; Schubert spielte er gern auf dem Klavier. Unter den Malern schätzte er besonders den Kölner Raffael Becker. Es war nicht nur dessen Kunst, sondern auch die ihnen gemeinsame Verbindung von Ironie, Heiterkeit und Sinn für Skurriles, die ihre freundschaftliche Beziehung prägte – und die ihnen Köln erträglich machte. Günther Stökl war ein geselliger Mensch, am vormittäglichen Gespräch beim Kaffee lag ihm viel. In seinen Freundschaften mit Kollegen blieb es auch bei engem  Kontakt, soweit erkennbar, oft beim „Sie“, und im Übrigen sah er Personen, die sich als seine Freunde darstellten, nicht immer unbedingt so. Seine Neigung zu Ironie, zu Zurückhaltung und zur Wahrung einer gewissen Distanz diente ihm wohl auch zum Selbstschutz. Dass er bei aller Konzentriertheit, die er viele Jahre mithilfe von Zigaretten, dann von Zigarren mit nachhaltiger Wirkung auf alle Anwesenden förderte, offen für Neues und Anregendes war, gehörte ebenfalls zu seinen Wesenszügen. Seinen Schülern ließ der Professor freien Lauf, und dass er sie gleichwohl genau beobachtete, kam in eher kurzen, bei passender Gelegenheit gemachten Bemerkungen und Hinweisen zum Ausdruck. Gespräche über laufende Arbeiten musste man suchen, und dabei legte er es, während er mit dem Brieföffner in dem legendären Loch in der Schreibtischkante bohrte, mehr darauf an, die Überlegungen des Fragenden zu Tage zu fördern, statt ihn mit raschen Ratschlägen womöglich einzuengen. Mit dieser Form des Angebots, sich an seiner Wissenschaft zu bedienen, und der Entlassung in die Selbständigkeit kam nicht jeder zurecht, der einer engeren Führung bedurft hätte. In einem Punkt äußerte sich Günther Stökl jedoch einmal scharf und deutlich: Wissenschaft findet am Schreibtisch statt, und nicht auf Reisen! Das bedeutete nicht, dass er Reisen grundsätzlich abhold gewesen wäre, die Exkursionen mit seinen Studenten nach Rumänien und in die Sowjetunion zeugen davon. Sie dienten gewissermaßen der Illustration des durch Studium erarbeiteten Wissens. Schreibtisch, das hieß Sprache, die gelesene und die geschriebene – ihm ging es um die „Geschichte im Wort“. Günther Stökl arbeitete konsequent und, wie es schien, schier unermüdlich am Schreibtisch, ob zu Hause oder im Urlaub, und zwar vornehmlich abends und bis spät in die Nacht. Da schrieb er seine Texte, neben den Vorträgen und Veröffentlichungen die zahllosen Gutachten, und da arbeitete er gewissenhaft, gründlich und genau die für die Jahrbücher eingereichten Beiträge durch. Selten ließ er erkennen, wie viel nachträgliche „Formulierungshilfe“ er mitunter dabei leistete. Im Zusammenhang mit den Jahrbüchern müssen einige Namen genannt werden: für die Münchner Redaktion Emilie Kubaschek, auf die Ingeborg Henke folgte, sowie der jung verstorbene Jürgen Kämmerer, den Günther Stökl außerordentlich geschätzt hat, und für Köln Maria Lammich (Perschke), der er seine immense Jahrbücher-Korrespondenz diktierte.

Im Mittelpunkt der umfangreichen wissenschaftlichen Arbeit Günther Stökls stand Russland, um das er sich in vielen tiefschürfenden Untersuchungen bemühte, die bis heute nichts von ihrer wegweisenden Bedeutung verloren haben. Das „Rätsel Russland“ zu entschlüsseln, hielt er letztlich wohl für unmöglich, daher sprach er von der „mühseligen Annäherung an die geschichtliche Wirklichkeit“. Dazu konnten ihm auch die sowjetischen Historiker verhelfen, deren Forschungen er, auch in Zeiten des Kalten Krieges, so ernst nahm, dass er hinter dem Vorhang ideologischer Verbrämung den wissenschaftlichen Ertrag aufspürte, der strenger Kritik standhielt. Zu diesem Themenkreis gehörten die Frage nach dem Verhältnis zwischen Russland und Europa, zwischen Osteuropa und den Deutschen, und nicht zuletzt die Aufmerksamkeit für die „kleinen Völker“. Hier sah er eine wissenschaftliche wie politisch-gesellschaftliche Verpflichtung, die auch aus seinen persönlichen Erfahrungen resultierte. – Es wird einmal eine Biographie Günther Stökls zu schreiben sein von jemandem, der Sinn für seine sensible und zugleich unbeirrbare Wissenschaftlichkeit, seine von Überzeugungen getragene Liberalität, seine musische Seite und seine Sprache hat. Der Nachlass liegt im Bundesarchiv Koblenz.

Hans Hecker, Köln

Zitierweise: Hans Hecker: Von der „mühseligen Annäherung an die geschichtliche Wirklichkeit“. Vor hundert Jahren wurde Günther Stökl geboren. in: Jahrbücher für Geschichte Osteuroas 64 (2016), H. 4, S. , http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Chronik/Hecker_100_Geburtstag_Stoekl.html (Datum des Seitenbesuchs)

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