Fünfhundert Jahre Reisen nach Russland
Arbeitsgespräch in der Eutiner Landesbibliothek
am 26. und 27. September 2008

Am 26. und 27. September 2008 fand in der Eutiner Landesbibliothek eine Arbeitstagung statt, die sich mit einem breiten Spektrum von Russland-Reisen beschäftigte. Veranstaltet wurde sie von der Eutiner Forschungsstelle zur historischen Reisekultur.

Für Russland-Historiker dürfte die Eutiner Landesbibliothek vor allem wegen ihrer Sammlungen zu Russland im 18. Jahrhundert interessant sein. Die ehemalige Hofbibliothek der Fürstbischöfe von Lübeck hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten als historische Spezialbibliothek profiliert. Sie besitzt das klassische Spektrum der höfischen, Schönen und gelehrten Literatur von der Frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert. Der zeitliche Schwerpunkt der Sammlungen liegt auf dem 18. Jahrhundert, daneben ist auch die Literatur des 17. und 19. Jahrhunderts recht gut vertreten.

Zu den interessantesten Sammlungsschwerpunkten gehören die Russica. Die Dichte der Russland-Literatur insbesondere aus dem 18. Jahrhundert erklärt sich durch die seit 1725 bestehenden engen dynastischen Beziehungen des am Eutiner Hof regierenden Hauses Schleswig-Holstein-Gottorf (jüngere Linie) zum Haus Romanov. So besitzt die Eutiner Landesbibliothek nicht nur höfische Prachtwerke wie die Krönungsbeschreibung der Kaiserin Elisabeth (1745), sondern auch seltene Tafelwerke wie das unter Leitung von Michail Machaev in Petersburg gestochene Album mit großformatigen Stadtansichten von St. Petersburg oder den „Rußischen Atlas“ von 1745 in der deutschen sowie in der russischen Ausgabe. In Eutin findet man einen bedeutenden Bestand zum petrinischen Russland, vor allem aber zu den russischen Herrschern des 18. Jahrhunderts, insbesondere zu Peter III. und Katharina II. Diese zum Teil seltenen und immer noch schwer zugänglichen Werke bilden einen Quellenfundus, der die Eutiner Landesbibliothek für Osteuropa-Historiker auch im Zeitalter der Digitalisierung zu einem interessanten Arbeitsort macht. Verwiesen sei auf den von Peter Nitsche herausgegebenen Katalog: Die Osteuropa-Bestände der Kieler Landesbibliothek, Heide 1989.

Ein fachübergreifender Sammelschwerpunkt der Eutiner Landesbibliothek ist die historische Reiseliteratur, die natürlich auch Reiseberichte über Osteuropa umfasst. Allein zu Russland und Sibirien finden sich hier etwa 700 Reiseberichte aus dem 16. bis 20. Jahrhundert. Der quantitativ wie qualitativ beachtliche Reichtum an Reiseliteratur führte 1992 zur Gründung der „Eutiner Forschungsstelle zur historischen Reisekultur“. Die historische Reiseforschung hat sich in Deutschland seit den 1970er Jahren zu einem weit über die Literaturwissenschaften hinausreichenden Forschungsgebiet entwickelt. Der implizit interdisziplinäre Charakter der Reiseliteratur macht diese in besonderem Maße geeignet für Forschungen mit übergreifendem kulturwissenschaftlichem Ansatz. Heute gelten die schriftlichen und bildlichen Zeugnisse von Reisenden als unverzichtbare Quellen für kultur-, kommunikations- und mentalitätsgeschichtliche Untersuchungen.

In diesem Kontext hat sich die Eutiner Forschungsstelle zur historischen Reisekultur drei Aufgaben gestellt: 1. Sammeln von Reiseliteratur von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, 2. Aufbau und Pflege von zwei Fachdatenbanken zur Reiseliteratur, und 3. Informationsservice zu allen Fragen der historischen Reisekultur.

Die von Wolfgang Griep gegründete und bis 2005 geführte Forschungsstelle zur historischen Reisekultur wurde im Mai 2008 von Susanne Luber übernommen. Trotz einer minimalen personellen und finanziellen Ausstattung hat sich die Forschungsstelle mit ihrem – in Deutschland einmaligen – Serviceangebot als wissenschaftlicher Dienstleister etabliert. Mit ihren Datenbanken, deren Erschließungstiefe weit über die Möglichkeiten eines Bibliothekskatalogs hinausgehen, verfügt sie über ein hoch spezialisiertes Rechercheinstrument. Bibliographische, Sach- und Bildinformation werden von Wissenschaftlern, Verlagen und populären Medien nachgefragt. Für die Osteuropakunde verbindet sich der Eutiner Sammelschwerpunkt Reiseliteratur auf glückliche Weise mit dem Russland-Schwerpunkt. So konnte die Eutiner Landesbibliothek Wesentliches zu großen Russland-Ausstellungen beitragen, die sich mit den Reisen Peters des Großen nach Westeuropa befassten (Bremen 1991, Bad Pyrmont 1999, Dortmund und Gotha 2003). Weitere Informationen zur Eutiner Landesbibliothek und der Online-Zugang zu den Datenbanken „Reiseliteratur in der Eutiner Landesbibliothek“ und „Deutschsprachige Reiseliteratur des 18. bis 20. Jahrhunderts“ finden sich unter http://www.lb-eutin.de.

Im September 2008 lud die Forschungsstelle nach längerer Pause wieder zu einer Reise-Tagung in die Eutiner Landesbibliothek ein. Konzipiert war das Treffen als Arbeitsgespräch, bei dem die offene Diskussion und die gegenseitige fachliche Anregung im Mittelpunkt standen. Deshalb war der Teilnehmerkreis bewusst klein und das Themenspektrum breit gehalten. Die inhaltliche Klammer bildete die Wahrnehmung Russlands in Reiseberichten aus fünf Jahrhunderten, von Herberstein bis zu modernen touristischen Studienreisen.

Hermann Beyer-Thoma (Regensburg) eröffnete die Tagung mit einer Vorstellung der 2007 erschienenen Edition von Sigismund von Herbersteins „Rerum Moscoviticarum commentarii“, die gleich in zweifacher Hinsicht eine synoptische ist: sie erschien als lateinisch-deutsche Parallelausgabe und gleichzeitig als Printausgabe und in elektronischer Form mit langzeitarchiviertem Text. Daran anknüpfend, referierte Beyer-Thoma über Möglichkeiten, Chancen und Probleme des elektronischen Publizierens - allein dazu gab es so viele Diskussionsbeiträge, dass es für ein eigenes Arbeitsgespräch gereicht hätte.

Die folgenden Vorträge befassten sich mit Russland-Reisen des 16. bis 21. Jahrhunderts. Johannes Dafinger (München) untersuchte Sigismund von Herbersteins Darstellung der russischen Orthodoxie im Kontext der Reformation in Europa und stellte die Frage, mit welchem Erkenntnisinteresse Herberstein die religiösen Dogmen und Gebräuche der Moskowiter beschreibt. Detlev Kraack (Berlin) berichtete über die Mission des habsburgischen Diplomaten Erich Lassota von Steblau zu den Zaporoger Kosaken im Jahr 1594. Dieser - bislang unzureichend edierte - Bericht ist u.a. deshalb interessant, weil Lassota von Steblau darin detailliert über die soziale Verfassung der Dneprkosaken berichtet. Detlef Haberland (Oldenburg) verglich Textvarianten in Engelbert Kaempfers Russlandtagebuch 1683 mit dem Reisebericht von Adam Olearius, der 50 Jahre zuvor auf  ähnlicher Route durch Russland gereist war, und charakterisierte Kaempfer als frühmodernen Forschungsreisenden.

Eva Seibel (Eichstätt-Ingolstadt) sprach über das Zarenbild des 18. Jahrhunderts in den Werken deutscher Reisender und kontrastierte zeitgenössische Wahrnehmungs- und Deutungsmuster mit modernen gendertheoretischen Ansätzen. Als Beitrag zur baltischen und deutsch-russischen Beziehungsgeschichte regte Axel E. Walter (Klaipeda) ein Projekt an, das auf der Basis eines Textkorpus von Reisebeschreibungen des 18. Jahrhunderts die Außenwahrnehmung der baltischen Metropolen Königsberg, Riga und St. Petersburg erforschen soll.

Galina Potapova (St. Petersburg / Hamburg) stellte die anthropologische Kulturtheorie der Dostoevskij-Übersetzerin Elisabeth (Less) Kaerrick vor, deren Russlandbild u.a. Oswald Spengler stark beeinflusst hat. Einen gewichtigen methodischen Beitrag lieferte Burckhard Dücker (Heidelberg). Anhand von Rahmungsmerkmalen von Reisen in die junge Sowjetunion stellte er dar, wie Methoden der Ritualforschung auf Reisetexte angewandt werden können. Abschließend berichtete Sybille Heeg (Hamburg / Berlin) über ihre Erfahrungen als Studienreiseleiterin nach Russland und in die Ukraine. Damit wurde die Verbindung vom wissenschaftlichen Diskurs über Reisetexte zur aktuellen Reisepraxis hergestellt.

Insgesamt erwies sich die Form des wissenschaftlichen Gesprächs für alle Teilnehmer als sehr produktiv. Die kleine, eher intime Eutiner Landesbibliothek wurde als idealer Ort für diese Form von Arbeitstagungen betrachtet, die auch in Zukunft nach Möglichkeit fortgesetzt werden sollen.

Susanne Luber, Eutin

Zitierweise: Susanne Luber: JGO, in: http://www.oei-dokumente.de/JGO/Chronik/Luber_Reisen.html (Datum des Seitenbesuchs)