Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 165-167
Verfasst von: Ina Alber
Agnes Arndt: Rote Bürger. Eine Milieu- und Beziehungsgeschichte linker Dissidenz in Polen (1956–1976). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013. 288 S. = Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 209. ISBN: 978-3-525-37032-2.
Rote Bürger – dieser Ausdruck mag im westlichen Politikverständnis eher als Oxymoron denn als übliches soziales Phänomen verstanden werden. Vom liberalen Bürgertum grenzen sich Personen mit sozialistischer und kommunistischer Weltanschauung in der Regel ab. Dass aber auch (bildungs-)bürgerlicher Habitus und sozialistische bzw. kommunistische Haltung unter bestimmten sozio-historischen Bedingungen zusammenfallen können, bezeugt das Beispiel polnischer Oppositioneller. Diesem Phänomen widmet Agnes Arndt ihre Monographie, die auf ihrer an der Freien Universität Berlin eingereichten Dissertation beruht. Sie zeigt in ihrer dichten und stringent argumentierenden Studie, dass es ein als bildungsbürgerlich bezeichnetes Milieu (Lepsius) war, aus dem sich die Protagonistinnen und Protagonisten der linken Kritik in der Volksrepublik Polen rekrutierten. Aus anfänglicher parteiinterner Kritik an der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) erwuchs prozesshaft zunächst linke Dissidenz und letztlich die demokratische Opposition. Der zeitliche Schwerpunkt der Monographie liegt auf den Jahren 1956–1976, die Verfasserin gibt aber auch einen Ausblick auf die Zeit nach 1989. Die erkenntnisleitende Frage lautet, „wie und warum es zur Entwicklung eines im politischen Spektrum als ‚links‘ einzustufenden Flügels der demokratischen Opposition in Polen kam“ (S. 11). Arndt zeigt das Potential, das in der Auseinandersetzung mit dem schwierigen Begriff der politischen „Linken“ stecken kann, wenn analytische Definition und die zeitgenössische Verwendung in ihrem Wandel differenziert betrachtet werden. Neben der Konzentration auf das Milieu der „Roten Bürger“ rückt die Verfasserin aber auch die Beziehungsgeschichte (Kaelble) im Rahmen nationaler und transnationaler Verknüpfungen mit anderen Oppositionsgruppen und Emigrationskreisen in den Fokus.
Zunächst stehen die Personen und Organisationsformen linker Dissidenz im Vordergrund. Zum einen setzt sich die Verfasserin mit der sozialen Herkunft der Protagonistinnen und Protagonisten sowie ihrer Sozialisierung als Bildungsbürger, mit der Bedeutung der jüdischen Herkunft bzw. der Assimilation sowie mit dem spezifischen Habitus auseinander. Dabei zeigt sich, dass bereits in den Herkunftsfamilien die Zugehörigkeit zu rotem Milieu angelegt und entsprechendes soziales und kulturelles Kapital im Sinne Bourdieus vorhanden waren. Zum anderen werden aber auch die spezifischen Orte des Austauschs der Netzwerke wie der Klub Krzywego Koła, Polityczny Klub Dyskusyjny und der Klub Poszukiwaczy Sprzeczności, deren Diskussionsthemen und personellen Entwicklungen vorgestellt. In den späten fünfziger Jahren bis Anfang der sechziger Jahre konnte in diesen Zusammenhängen innerhalb der kommunistischen Strukturen relativ frei über Gesellschaft, Philosophie und Politik debattiert werden, ehe die Klubs von staatlicher Seite geschlossen und einige Mitglieder Repressionen ausgesetzt wurden.
In diesem ersten Kapitel wird auch ein eigener Unterpunkt dem Gender-Aspekt gewidmet. Arndt verdeutlicht, dass auch im oppositionellen Lebensalltag die genderspezifische Arbeitsteilung – die Männer redeten öffentlich und machten Politik, die Frauen kümmerten sich um Arbeit, Kinder, Haushalt und kochten Tee bei den konspirativen Treffen – reproduziert wurde. Leider taucht dieser Aspekt nicht systematisch in der weiteren Analyse auf. Zwar wird auf der theoretischen Ebene der Gender-Aspekt betont und um seine Bedeutung gewusst, angesichts der Quellenlage und der männlichen Dominanz in der öffentlichen Überlieferung wird die genderspezifische Ungleichheit in der Arbeit jedoch nicht aufgebrochen. Dabei böten im Falle der vorliegenden Studie das Beispiel der Mitbegründerin des Klub Krzywego Koła, Ewa Garsztecka, und ihr späteres Ausscheiden einen spannenden Ansatzpunkt, die einleitend diskutierte Gender-Problematik analytisch aufzugreifen (S. 74).
Im zweiten Teil der Arbeit steht stärker der Wandel politischer Inhalte und Deutungen im Fokus der Analyse. In eindrücklicher Tiefe und überzeugender Breite zeichnet Arndt den Weg vom parteiinternen Revisionismus über die Selbstdefinition als „laikale Linke“ hin zur pluralen Zivilgesellschaft nach. Besonders das Jahr 1968 markiert in ihrer Analyse den Wendepunkt von systemimmanentem Dissens zur systembekämpfenden Opposition. Daran schlossen sich auch die Annäherung an andere gesellschaftliche Gruppen sowie eine Integration linker und christlicher Deutungsmuster an.
Das dritte Hauptkapitel widmet sich dann vor allem den „transnationalen“ Verflechtungen. Zentrale Analysegegenstände sind die Publikationen, persönlichen Netzwerke und der Austausch, die im Umfeld der Pariser Redaktion der Kultura, sowie der in Schweden, später London, erscheinenden Zeitschrift Aneks entstanden. Hier macht Arndt vor allem die Verbindungen und inhaltlichen Übereinstimmungen zu den roten Bürgern aus, während der Robotnik der PPS im Londoner Exil andere Akzente setzte. Sie kommt in Bezug auf die transnationale Bedeutung oppositioneller Aktivitäten aber zum Ergebnis, dass zwar aus praktischen Erwägungen die Exilzeitschriften zur Publikation genutzt wurden oder Emigrantinnen und Emigranten sich in der Pariser Kultura-Redaktion einer Zuflucht sicher sein konnten, in den 1970er Jahren jedoch vor allem eine Renationalisierung und ein verstärkter Bezug auf Polen in der linken Dissidenz zu finden gewesen seien.
Das von Arndt untersuchte Milieu ist sehr stark auf Warschau konzentriert, was die Verfasserin mit pragmatischen und empirischen Erwägungen begründet (S. 14). Jedoch hätte im Sinne einer Beziehungsgeschichte auch ein Blick über die polnische Hauptstadt hinaus in andere Städte und Regionen zu einer komparativen Sicht beitragen können. So zeigt beispielsweise die ebenfalls 2013 erschienene biographie- und netzwerkanalytische Studie von Piotr Filipkowski und Joanna Wawrzyniak zu einer Gruppe von Oppositionellen in Posen, dass diese der Ansicht waren, in Warschau werde sinngemäß nur „theoretisches Zeug geplappert, während man in Poznań wirklich oppositionell aktiv sei“ (vgl. Piotr Filipkowski / Joanna Wawrzyniak: Polnische Oppositionelle. Biografisches Studium anhand eines Fallbeispiels in Polen, in: Opposition als Lebensform. Dissidenz in der DDR, der ČSSR und in Polen. Hrsg. von Alexander von Plato und Tomáš Vilímek. Berlin, Münster 2013, S. 489–540, hier S. 526).
Das Verdienst der Arbeit Arndts liegt in einer bestechenden Verknüpfung milieu-, ideen-, sozial- und beziehungsgeschichtlicher Faktoren unter Einbezug unterschiedlichster Quellenmaterialien und Forschungsergebnisse. Die Verfasserin zeigt, welche Potentiale in der Auseinandersetzung mit der Geschichte ostmitteleuropäischer Opposition stecken, besonders wenn sie auch über nationale Historiographie hinausreicht. Gerade in der Rezeption und Weiterentwicklung der Ergebnisse polnischer Historiker wie des von Arndt oft zitierten Andrzej Friszke ermöglicht die Monographie auch nicht-polnischsprachigen Leserinnen und Lesern, die Entwicklungen des Diskurses nachzuvollziehen. Mit Versuchen wie der Parallelsetzung der Debatten um den Verfassungspatriotismus (Sternberger/Habermas) und der Entwicklung des Konzepts der Zivilgesellschaft in der polnischen Opposition bietet die Arbeit auch einen Anstoß zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Demokratieverständnissen zwischen deutscher und polnischer Öffentlichkeit und damit einen Beitrag zu dem transnationalen Austausch, den – wie Arndt zeigte – die polnischen linken Dissidentinnen und Dissidenten mit der westeuropäischen Linken in der Vergangenheit nicht erlangt hatten.
Zitierweise: Ina Alber über: Agnes Arndt: Rote Bürger. Eine Milieu- und Beziehungsgeschichte linker Dissidenz in Polen (1956–1976). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013. 288 S. = Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 209. ISBN: 978-3-525-37032-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Alber_Arndt_Rote_Buerger.html (Datum des Seitenbesuchs)
© 2016 by Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg and Ina Alber. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de
Die digitalen Rezensionen von Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.
Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.