Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 62 (2014), 4, S. 28-29
Verfasst von: Andrej Andreev
Julie Grandhaye: Les décembristes. Une génération républicaine en Russie autocratique. Paris: Publications de la Sorbonne, 2011. 445 S., Abb., Tab., Graph. ISBN: 978-2-85944-662-8.
Die Bewegung der Dekabristen (die im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts in Russland den Anfang mit den Untergrundgesellschaften machten) und des antimonarchischen Dekabristenaufstandes vom 14. Dezember 1825 ist nach wie vor eines der wichtigsten Forschungsthemen zum zarischen Russland. In den letzten anderthalb Jahrhunderten sind sowohl in Russland als auch im Ausland Tausende von Artikeln, Hunderte von Monographien, Dutzende von Quelleneditionen mit Dokumenten, Briefen, Tagebüchern und Erinnerungen publiziert worden. Wohl kein anderes Ereignis im Russland des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist so detailliert untersucht worden.
Das vorliegende Buch der französischen Autorin Julie Grandhaye ist Frucht mehrjähriger Forschungen und fächert ein breites Bild der Dekabristenbewegung auf. Seinen Zielen nach steht dieses Werk in einer Reihe mit den klassischen Monographien von Marc Raeff in der englischsprachigen Historiographie und von M. V. Nečkina, N. M. Družinin, V. A. Fedorov u.a. in der russischen. Ein unbestreitbarer Verdienst der Autorin ist es, dass sie ihr Thema von den neueren Forschungstendenzen her anpackt, auch wenn in starkem Maße noch die traditionelle „große Erzählung“ zu finden ist, d.h. die sukzessive Schilderung der Entstehungsphasen und der Tätigkeit der geheimen Dekabristengesellschaften sowie des späteren Schicksals ihrer Mitglieder.
Wenn die sowjetische Historiographie den „Dekabristen-Mythos“ als ihr Hauptergebnis hervorgebracht hat – einen Mythos, nach dem die Dekabristen als heroische Kämpfer gegen die Autokratie, als „leidenschaftliche Revolutionäre“ erscheinen, und der bis in die Gegenwart die Schulbücher und das öffentliches Bewusstsein in Russland dominiert, so hat sich in den letzten 20 Jahren die Tonalität der Historiographie zu diesem Thema doch sichtlich verändert. Der Wunsch, diesen Mythos zu überwinden, führte zum gegenteiligen Extrem: Die Dekabristen wurden oft als herrschsüchtige Militärverschwörer dargestellt, denen kein Mittel zu schlecht war – bis hin zur Täuschung der Soldaten, zum Verrat an den Vorgesetzten und zum Eidbruch. Diejenige, die noch vor kurzem zu den „besten Menschen ihrer Zeit“ gezählt worden waren, nehmen in manchen gegenwärtigen russischen Monographien jetzt wieder (wie in der Zeit der Niederschlagung des Aufstands) die Gestalt von „Staatsverbrechern“ an.
In diesem Sinn lässt es sich in dem Werk J. Grandhayes ein positiver Ansatz nicht bestreiten: die Autorin setzt sich nicht zum Ziel, irgendwelche historiographische Trends umzukehren, sie bemüht sich aber um ein möglichst objektives und facettenreiches Bild der Mitglieder der Bewegung. Darin besteht die Methode von J. Grandhaye: Das Porträt einer ganzen Generation von jungen Adligen darzustellen, die, unabhängig davon, ob es ihnen beschieden war, in die Reihen der Aufständischen einzutreten, gemeinsame Ideen teilten und danach strebten, das Leben in Russland zu verändern, ihr Land europäischen Werten näher zu bringen und eine neue Staatsordnung auf konstitutioneller und gesetzlicher Grundlage zu schaffen.
Dementsprechend beschränkt sich J. Grandhaye bei der Darstellung der gesellschaftlichen Tätigkeit der Dekabristen nicht auf die Komplotte der geheimen Gesellschaften. Große Aufmerksamkeit widmet die Autorin der publizistischen Tätigkeit der Dekabristen, ihren literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten, ihren Versuchen, unter den Soldaten zu agitieren. Als neu darf die Frage nach den „Dekabristen in der Opposition zum Zaren nach 1825“ gelten. Die Autorin arbeitet einige gemeinsame Einstellungen heraus, die in den Veröffentlichungen der Mitglieder der Bewegung nach der Niederwerfung des Aufstandes zum Vorschein kommen, als einige Dekabristen noch im Zentralrussland, manche im Ausland und etliche in sibirischem Exil lebten.
Hervorzuheben ist, dass in dem Buch nicht nur die Ereignis- und Ideengeschichte der Dekabristenbewegung beleuchtet wird, sondern auch die Bildung von eines gesellschaftlichen und historischen Gedächtnisses. Es wird versucht zu erklären, wieso ein misslungener Offiziersaufstand, dessen Zweck (die Einführung einer konstitutionellen Republik) a priori nicht erreichbar zu sein schien und der zudem unter der verfehlten Parole eines Herrscherwechsels zugunsten von „Kaiser Konstantin“ auftrat, so schnell zum Symbol der besten und höchsten aller sozialen Bestrebungen werden konnte – des Kampfes gegen die Willkür und für die Erneuerung Russland.
Bei einer so breiten Fragestellung ist es nicht verwunderlich, dass nicht alle Themen gleichermaßen beleuchtet werden. Insbesondere scheint ein gewisser, in der historiographischen Tradition verankerter Russland-Zentrismus die Autorin zu hindern, vergleichendes Material aus der Geschichte ähnlicher Untergrundgesellschaften der 1810er – 1820er Jahre in anderen Teilen Europas (darunter in Deutschland, Italien, Spanien, Griechenland u.a.) heranzuziehen, obwohl Verbindungen zwischen diesen Gesellschaften von J. Grandhaye durchaus eingeräumt und teilweise auch thematisiert werden, beispielsweise in dem hervorragenden Vergleich der Statuten des „Sojuz Blagodenstvija“(„Bund des tugendhaften Lebens“) und des deutschen Tugendbundes.
Aufs Ganze gesehen bedeutet das Buch von J. Grandhaye eine wichtige Etappe in der Dekabristenforschung, und es wäre der russischen Geschichtsschreibung zu wünschen, die Tradition solcher zusammenfassenden Darstellungen zu erneuern, in denen aktuelle Fragestellungen mit einer vertieften Analyse der historischen Umstände verknüpft werden.
Zitierweise: Andrej Andreev über: Julie Grandhaye: Les décembristes. Une génération républicaine en Russie autocratique. Paris: Publications de la Sorbonne, 2011. 445 S., Abb., Tab., Graph. ISBN: 978-2-85944-662-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Andreev_Grandhaye_Les_decembristes.html (Datum des Seitenbesuchs)
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