Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 481-483

Verfasst von: Andrej Andreev

 

Julie Grandhaye: Russiela république interdite. Le moment décembriste et ses enjeux (XVIIIeXXIe siècles). Seyssel: Champ Vallon, 2012. 377 S., Abb. = La chose publique. ISBN: 978-2-87673-569-9.

Das rezensierte Werk der französischen Historikerin Julie Grandhaye ist eine unmittelbare und logische Fortsetzung ihres ersten Buches, das 2011 in Paris unter dem Titel Les décembristes. Une génération républicaine en Russie autocratique erschien. Dort liegt der inhaltliche Schwerpunkt auf der Untersuchung der Generation der Dekabristen und ihrer politischen Bestrebungen, Projekte und Träume bezüglich der Zukunft Russlands, wobei Grandhaye zur Generation der Dekabristen nicht nur die jungen Offiziere zählt, die am 14. Dezember 1825 den antimonarchischen Aufstandsversuch in St. Petersburg unternahmen, sondern auch viele von deren Altersgenossen.

Die Besonderheit des zweiten Werks von Julie Grandhaye besteht darin, dass sie ihre Aufmerksamkeit nun auf die Analyse der Ideen der Dekabristen im Kontext der Geschichte des politischen Denkens im Russländischen Reich richtet. Die Autorin will dem heutigen Leser diese Ideen näherbringen und dabei deutlich zu machen, dass sie trotz der zeitlichen Distanz von 200 Jahren für die Gegenwart von Bedeutung sind. In diesem Sinne kann man das Buch von Julie Grandhaye nicht ausschließlich als Beitrag zur historischen Forschung bezeichnen; es gehört vielmehr in den Grenzbereich zwischen Geschichtswissenschaft und Politologie. Dies liegt in einer der konzeptuellen Schlüsselthesen der Autorin begründet, denn ihrer Meinung nach zeugt die Bewegung der Dekabristen vom Eintritt Russlands in die politische Moderne, d.h. sie steht am Anfang politischer Prozesse und Strukturen, die bis heute fortwirken, so dass wir sie noch unmittelbar beobachten und am eigenen Leib erfahren können.

Eine solche Konzeption steht im völligen Widerspruch zu der Interpretation des Aufstandsversuchs der Dekabristen alszufälliges Ereignis, das nicht geschehen wäre, wären nicht verschiedene, eher unwahrscheinliche Umstände zusammengetroffen. Julie Grandhaye betont, dass sich die Bewegung der Dekabristen unter nachvollziehbaren Bedingungen entwickelte und sich aus den Ideen speiste, auf welchen die neuen politischen Vorstellungen basierten, die sich seit der Französischen Revolution durch ganz Europa verbreiteten. So könne trotz seiner autokratischen Herrschaftsform in diesem Zusammenhang nicht von einer Rückständigkeit oder einer isolierten Entwicklung Russlands die Rede sein. Die Ideen der Dekabristen stellten eine für das Russländische Reich spezifische Variante des politischen Denkens der Moderne dar, sie seien derrussische Beitrag“ zum gesamteuropäischen Streben nach politischer Selbstbestimmung.

Die Kernidee aller Reformprojekte der Dekabristen war die Republik, aber welche und auf welcher Grundlage?so die zentralen Fragen der Autorin. Sie hat einen großen Teil ihres Werkes der Forschung über die Entstehung und den Wandel der diesbezüglichen Vorstellungen im Russländischen Reich von der Mitte des 18. bis zum Ende des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts gewidmet. Vor allem werden viele staatliche Maßnahmen im Hinblick auf die im aufgeklärten Absolutismus wurzelnden republikanischen Konzeptionen analysiert: die Reformen der Staatsverwaltung durch Katharina II. mit der daraus resultierenden Einführung derRechtsstaatskonzeption“ sowie die folgenden konstitutionellen Projekte jener Zeit, die von Michail Speranskij konzipierten grandiosen Reformen inklusive der geplanten Einführung einer Volksvertretung und schließlich die in der Regierungszeit Alexanders I. im Zusammenhang mit den liberalen Umgestaltungen in Polen und der Aufhebung der Leibeigenschaft in den baltischen Provinzen formulierten Entwürfe einer russischen Verfassung. So erscheinen die republikanischen Vorstellungen der Dekabristen nicht nur als eine Folge der politischen Veränderungen, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts außerhalb Russlands vollzogen, sondern in einem viel höheren Maße als eine Antwort auf jene Herausforderungen, denen man sich in Russland in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts infolge der Erfolge und Misserfolge der vorausgegangenen Reformen gegenübersah.

Die Untersuchung von Julie Grandhaye zeigt eine beträchtliche Vielfalt der von den Dekabristen formulierten republikanischen Konzeptionen: eine föderative, eine zentralstaatliche, eine ethnisch-slawische und sogar eine nicht durch politische Regularien, sondern durch poetische Metaphern definierte Republik. Dabei ist es den Dekabristen in ihrem Diskurs über die richtige republikanische Konzeption gelungen, eine Reihe zentraler Probleme hinsichtlich des Staatsaufbaus Russlands zu formulieren: die große territoriale Ausdehnung, die Schwierigkeit der Definition von Bürgerschaft und Bürgerrechten, die Problematik der für die Einrichtung von Volksvertretungen zu wählenden Mittel und Wege und schließlich in diesem Zusammenhang die Rolle und der Charakter von Wahlen in Russland. All dies, so die Autorin, sei nicht nur historisch, sondern auch gegenwärtig von Bedeutung.

Deshalb ist es nicht erstaunlich oder unverhältnismäßig, dass das in der Tradition der klassischen Geschichtsschreibung stehende Buch über einen Epilog verfügt, der die neusten politischen Ereignisse in Russland Ende des Jahres 2011 zum Gegenstand hat. Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass die Bestrebungen im heutigen Russland, politische Wahlen gegen Fälschung und Korruption zu verteidigen, ihnen so ihre eigentliche Bedeutung zurückzugeben und damit die Grundlagen der demokratischen Republik zu schützen, eng  mit den Ideen und Idealen verwandt sind, die in Russland zum ersten Mal von den Dekabristen vertreten wurden, als da sind das Prinzip der Verantwortlichkeit eines jeden Einzelnen für sein Vaterland, die Priorität des Gesetzes, die Unantastbarkeit der Bürgerrechte. Damit schlägt die Untersuchung von Julie Grandhaye eine Brücke von der historischen Analyse der Frage nach den republikanischen Vorstellungen in Russland zu Beginn des 19.Jahrhunderts und ihren Wurzeln bis zu den politischen Prozessen in Russland zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die in diesem Buch behandelten historischen Konzeptionen werfen also ein Licht auf die grundsätzlichen Probleme, mit denen das heutige Russland zu tun hat, und darin besteht die große Bedeutung und Aktualität des rezensierten Werkes.

Andrej Andreev, Moskau

Zitierweise: Andrej Andreev über: Julie Grandhaye: Russie – la république interdite. Le moment décembriste et ses enjeux (XVIIIe – XXIe siècles). Seyssel: Champ Vallon, 2012. 377 S., Abb. = La chose publique. ISBN: 978-2-87673-569-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Andreev_Grandhaye_Russie_La_Republique_interdite.html (Datum des Seitenbesuchs)

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