Archiv evrejskoj istorii. Glavnyj red. O. V. Bud­nickij. Izdat. Rosspėn Moskva 2004–2006. Tom 1: 455 S.; Tom 2: 463 S.; Tom 3: 407 S.

In den 1990er Jahren frequentierten jüdische Historiker aus dem Westen, auf der Suche nach Quellen und Literatur und nach Kontakten zu ihren Kollegen jenseits des einstigen Eisernen Vorhangs, einen alten repräsentativen Bau der Moskauer Staatsuniversität (MGU), der in der Nähe des Kreml’, in der Mochovaja-Straße, lag. In einem seiner obersten Stockwerke befand sich nämlich die Jüdische Universität. Obwohl ihr Name beeindruckend klang, ließen die Arbeitsbedingungen doch zu wünschen übrig. Der ganze Mitarbeiterstab war – samt Sekretariat und Buchladen – in drei winzigen Zimmern untergebracht. Nichtsdestoweniger setzte die Jüdische Universität ein Zeichen des Wandels.

Seit dem Ende der Achtzigerjahre begann sich die Judaistik im russischen Wortverständnis in der damaligen Sowjetunion als moderne Richtung der Geschichtswissenschaft zu etablieren. Die Bedeutung dieses Prozesses begreift man aus seiner Vorgeschichte. Nach 1947, mit dem Vordringen des staatlichen Antisemitismus und des sogenannten „Antizionismus“ in der UdSSR, hörte die jüdische Historiographie – auch in den Jahrzehnten davor im sowjetischen Wissenschaftsbetrieb kaum fest verankert – auf, als selbständiges Forschungs- und akademisches Lehrfach zu existieren. In der Folgezeit blieb sie Enthusiasten und Fachliebhabern überlassen, die ihre Forschungsergebnisse im „Selbstverlag“ (samizdat) und „Auslandsverlag“ (tamizdat) verbreiteten. Erst Gorbačevs Perestrojka schuf Bedingungen für die Wiedergeburt der Geschichte des Judentums. Eine positive Rolle spielten dabei die allgemeine „Enttabuisierung“ der jüdischen Geschichte und das Erwachen des nationalen Bewusstseins der Juden, das ein Bedürfnis nach historischer Selbstvergewisserung des eigenen Volkes weckte. Nach fast einem Vierteljahrhundert ist man soweit, eine Zwischenbilanz dieses Prozesses zu ziehen.

Sie liegt in der Reihe „Archiv für jüdische Geschichte“ (Archiv evrejskoj istorii) vor, in der bisher drei Bände erschienen sind. Bei ihren Autoren und Herausgebern handelt es sich mit wenigen Ausnahmen um Vertreter der Judaistik und geisteswissenschaftlicher Nachbarfächer wie Slawistik und Ethnographie. Die Veröffentlichungen vermitteln einen Eindruck von Grundrichtungen und methodischen Positionen der Jüdischen Studien in der Gegenwart. Die Sammelbände enthalten unter anderem Einzeldarstellungen und Dokumente zu solchen Bereichen wie der zaristischen Judenpolitik, jüdischem Reformdenken, Holocaust, staatlichem Antisemitismus in der UdSSR, politischen Bewegungen des Judentums, jüdischer Historiographie, Kultur und Literatur. Alle Beteiligten haben eine methodische Position gemeinsam – die Betrachtung der jüdischen Geschichte im Kontext russischer und sowjetischer Geschichte. Die Herausgeber des „Archivs“ verzichten auf einen chronologischen Aufbau. Alle Bände haben die gleiche Struktur und bestehen aus drei Unterabschnitten: „Erinnerungen (vospominanija) und Ta­gebücher (dnevniki)“, „Untersuchungen“ (is­sle­do­vanija) und „Dokumente“ (dokumenty). In den dritten Band sind zusätzlich Literaturberichte (obzory) aufgenommen.

Es ist nicht nur das hohe Niveau der Beiträge, sondern auch die Fachkompetenz der Historiker und Archivare zu betonen, die die Dokumente für die Veröffentlichung vorbereiteten. Da es aus Platzgründen nicht möglich ist, auf jede Publikation im einzelnen einzugehen, seien hier stellvertretend für andere nur wenige Beispiele genannt. Die komplexe Geschichte der politischen Interaktion zwischen der Staatsadministration und den jüdischen Gemeinden geht aus dem im ersten Band erschienenen Beitrag von D. Fel’dman über jüdische štadlany hervor, die die Interessen der Gemeinden gegenüber den Machthabern des Russländischen Reiches im 19. Jahrhundert vertraten. In einer neuen Publikation von V. Kel’ner über S. Dubnov im selben Band wird ein weiterer Aspekt der politischen Biographie des bedeutendsten jüdischen Historikers der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts thematisiert – seine Tätigkeit in der „Union für die Durchsetzung der Gleichberechtigung der Juden in Russland“ (Sojuz dlja dostiženija polnopravija evreev v Rossii). Unter den Veröffentlichungen des zweiten Bandes verdient die Familienchronik von Efim Rajze Beachtung. Ihr Protagonist – ein namhafter Vertreter der jüdischen Kultur und Freund des hebräischen Dichters Chaim Lenskij – liefert mit seinem Leben und Werk ein sprechendes Beispiel dafür, was es bedeutete, Jude und jüdischer Kulturschaffender in der UdSSR zu sein. Für Historiker und Literaturwissenschaftler gleichermaßen von Interesse ist der Beitrag von G. Eistrach über jüdisches Literaturleben in Moskau während der zwanziger Jahre, in dem zahlreiche neue Quellen in Jiddisch zum ersten Mal ausgewertet werden: In der ersten Hälfte jenes Jahrzehnts bestanden in einer Situation relativer ideologischer Toleranz von Seiten der Jüdischen Sektionen (Evsekcii) der VKP(b) und auf der Grundlage eines Bündnisses mit „nichtproletarischen“ Kräften im Kulturleben Vereinigungen wie der „Moskauer Kreis der jüdischen Schriftsteller und Künstler“ (Moskovskij kružok evrejskich pisatelej i chudožnikov, MKEPCh), deren Programmatik und Ästhetik nur im Kontext der gesamteuropäischen Debatten zwischen „Archaisten“ und „Erneuerern“ zu begreifen ist. Der Autor eines weiteren Beitrags des zweiten Bandes, P. Poljan, schlägt vor, den Beginn des Holocaust in der UdSSR schon auf den Sommer 1941 zu datieren, als die Vernichtung sowjetischer Truppenangehöriger jüdischer Abstammung in den deutschen Kriegsgefangenenlagern begann. Die Deutung des Holocaust in der slawischen Folklore ist der Gegenstand des Beitrags von O. Belova. Sie zeigt, dass in den ländlichen Gegenden des sowjetischen Westens die Deutung der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung nicht in den oktroyierten Kategorien des sowjetmarxistischen Diskurses, sondern im Kon­text des christlichen Glaubens erfolgte, wobei sakrale und mystische Elemente zusammenflossen. So wurde die Figur des Juden mythologisiert, der Holocaust unter anderem als legitimer Strafakt gedeutet, dem die Juden als „Mörder Christi“ unterlagen. Ein Zeugnis für die Artikulation des säkularen politischen Denkens im Judentum zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist das Projekt einer jüdischen Reform, das der Unternehmer und Maskilim G. Markevič bei den zarischen Regierungsstellen einreichte; nun wird es ebenfalls im zweiten Band des „Archivs“ veröffentlicht. Eine wichtige Quelle zur Geschichte der Juden während des Ersten Weltkrieges liegt im dritten Band des „Archivs“ mit den Memoiren des inzwischen wiederentdeckten Klassikers der russisch-jüdischen Literatur An-skij vor. Im Unterabschnitt „Untersuchungen“ ragt der Beitrag von M. Dol­bi­lov über das confessions engeneering des Russ­ländischen Rei­ches hervor. Darin wird die These vertreten, dass Integrationsbestrebungen, Neutralität und konfessionelle Toleranz zu Grund­elementen der Religions- und Machtpolitik unter Zar Alexander II. gehörten. Der Unterabschnitt „Dokumente“ schlägt den Bogen in das 20. Jahrhundert: Er enthält seltene historische Zeugnisse, die erstmals die Verbindung des prominenten Zionisten Vladimir Žabotinskij zu Freimaurern belegen.

Mit welchen Schwierigkeiten ein Historiker des Judentums in den Staaten der ehemaligen UdSSR konfrontiert wird, wie unschätzbar deshalb seine Arbeit ist, versteht man, wenn man sich vor Augen hält, dass im sowjetischen Vielvölkerimperium nicht nur die politische und kulturelle Existenz der Juden als Nation, sondern auch die jüdische Geschichte als eigenständiges Phänomen und als Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung in Frage gestellt wur­den. Wo es aber weder eine Nation noch eine nationale Geschichte gab – und in dem Fall klingt es keineswegs banal – dort gab es auch kein intaktes Geschichtsarchiv als ein System der Dokumentierung, Beschreibung und Systematisierung von Zeugnissen ihrer historischen Vergangenheit.

Lilia Antipow, Erlangen/Nürnberg

Zitierweise: Lilia Antipow über: Archiv evrejskoj istorii. Glavnyj red. O. V. Budnickij. Izdat. Rosspėn Moskva 2004–2006. Tom 1-3. ISBN: 5-8243-0741-5 , in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 417-418: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Antipow_Archiv_evrejskoj_istorii.html (Datum des Seitenbesuchs)