Oleg V. Budnickij Rossijskie evrei meždu krasnymi i belymi 1917–1920. [Die russländischen Juden zwischen Roten und Weißen 1917–1920.] Izdat. Rosspėn Moskva 2006. 551 S.

„Während der Jahre 1918–1920 fanden allein in der Ukraine in annähernd 1.300 Siedlungen über 1.500 antijüdische Pogrome statt. Nach unterschiedlichen Schätzungen wurden zwischen 50–60 Tausend und 200 Tausend Juden ermordet oder sie starben an Verletzung. Etwa 200 Tausend Juden wurden verletzt oder zu Krüppeln gemacht. Tausende von Frauen wurden vergewaltigt. Etwa 50 Tausend Frauen wurden zu Witwen; 300 Tausend Kinder wurden zu Waisen.“ Diese Aussage des russischen Historikers Oleg Budnickij gehört zu den schrecklichsten in seinem Buch (S. 275). Während der Russischen Revolution und während des Bürgerkrieges wurden Pogrome sowohl von den Roten als auch von den Weißen als den beiden Hauptkonfliktparteien begangen, die mit unterschiedlichen und zutiefst gegensätzlichen – und wenn man genau sein will, dann auch sich gegenseitig ausschließenden – Vorstellungen über die Juden operierten: Für die Roten waren die Juden „Kapitalisten“, „Spekulanten“ und „Ausbeuter des russischen Volkes“, für die Weißen Exponenten des „jüdischen Bolschewismus“. Die Geschichte der antijüdischen Pogrome dieser Jahre wird für den Autor zum Ausgangspunkt seiner Darstellung. Budnickij interessieren zwei Themen, in deren Kontext er das Problem der antijüdischen Gewalt betrachtet – die Juden und die „jüdische Frage“ in der Russischen Revolution und im Bürgerkrieg. Für die russische Historiographie ist dieses Thema vergleichsweise neu. Doch kann sich der Autor in seiner Untersuchung sowohl auf die Arbeiten der europäischen und amerikanischen Kollegen als auch auf eine große Menge von Archivquellen stützen, unter anderem zur jüdischen Regionalgeschichte. Budnickijs methodischer Zugang besteht darin, die Geschichte der Juden in Russland als Bestandteil der russischen Geschichte dieser Zeit zu sehen; ihre adäquate Interpretation ist für ihn ohne diesen Kontext nicht möglich.

In Budnickijs Studie wird die Vorstellung von Juden als nur passiven Opfern der Revolution und des Bürgerkrieges problematisiert; sie erscheinen hier als aktive Subjekte der eigenen und der russischen Geschichte. Dabei sei, so Budnickij, den Juden noch im Herbst 1917 eine eindeutig probolschewistische Einstellung kaum nachzuweisen: „Das russische Judentum war gespalten wie das ganze Land“ (S. 496). So seien „alle jüdische Parteien und Gruppen“ der bolschewistischen Revolution ablehnend gegenübergestanden (S. 89). Dennoch hätten Juden beim Aufbau des Sowjetstaates an vorderster Front mitgewirkt. Vor 1917 seien sie durch die Perspektive, den Zarismus zu stürzen und dessen diskriminierende antijüdische Gesetzgebung abzuschaffen, auf die Seite der Bol’ševiki gedrängt worden. Nach 1917 spielten – neben ideellen Gründen – die Erfahrung der Zivilisationskatastrophe und der Entwurzelung, der Antisemitismus der Weißen und die Chance, in der beruflichen und sozialen Hierarchie aufzusteigen, sowie auch der schlichte Wunsch zu überleben und in einem durch die allgemeine Stagnation erschütterten Land einen Lebensunterhalt zu verdienen, eine Rolle. Ein hoher Bildungs- und Urbanisierungsgrad der jüdischen Bevölkerung habe dazu beigetragen, dass ihr Aufstieg auf der Karriereleiter des bolschewistischen Staates, seines Partei- und Staatsapparates, u.a. in der Allrussländischen Außerordentlichen Kommission (VČK), schnell vonstatten ging. Entsprechende Statistiken sind im Buch angeführt (S. 107). Ein weiterer Teil der probolschewistisch eingestellten Juden wirkte in den Jüdischen Sektionen (Evsekcija) der Partei und im Jüdischen Kommissariat (Evkom) mit – mit dem Auftrag, den Sozialismus „auf der jüdischen Straße“ aufzubauen und Zionismus, Religion und die hebräische Sprache zu bekämpfen, wenn auch mit wechselndem Erfolg – die jüdischen sozialistischen Parteien, der Bund und Poalei Zion kooperierten anfangs mit den Bol’ševiki, bemüht um die Heranziehung der Juden zu den neuen Staats- und Armeestrukturen.

Anders sah die Situation auf der weißen Seite des politischen Spektrums aus. Es ist zweifellos Budnickijs Verdienst, die erste stringent argumentierende Darstellung zum Thema „Die Juden und die weiße Bewegung“ vorgelegt zu haben. In der ersten Phase des antibolschewistischen Widerstandes (Juni–Juli 1918) unterstützten Juden, folgt man dem Autor, die Weißen sowohl ideell und materiell als auch durch „persönliche Teilnahme“ an den Kämpfen (S. 184). Doch bereits 1919 wurde die Rekrutierung der Juden für den Dienst in der Freiwilligenarmee eingestellt; die Ausnahmen von dieser Regelung blieben rar. In der Folgezeit beschränkte sich ihre Mitwirkung in der weißen Bewegung auf die beiden erstgenannten Sphären.

Was die Haltung unterschiedlicher Kreise der russischen Politik zur „jüdischen Frage“ angeht, so meint der Autor, diese sei zu einer Art politischem „Lackmuspapier“ geworden (S. 369). Mit seiner Hilfe sei die politische Orientierung – die rote wie die weiße – festgestellt worden. Die Politik der Roten – in deren Interpretation folgt Budnickij den in den letzten Jahren vorgeschlagenen Mustern, die er lediglich durch neue Archivfunde stützt – habe als Hauptziele den Umbau des ganzen jüdischen Lebens auf sozialistischer Grundlage sowie den Kampf gegen den Antisemitismus und die Pogrome mit politischen, administrativ-justiziellen und propagandistischen Mitteln gehabt. Während der Antisemitismus demnach kein Bestandteil der offiziellen Politik des bolschewistischen Staates gewesen sei, hätten seine Vertreter vor Ort – in dieser Hinsicht stach insbesondere die Erste Reiterarmee von Semen Budennyj heraus – in eigener Initiative Gewalt und Willkür gegenüber den Juden ausgeübt (S. 150).

Die Politik der Weißen, genauer gesagt der Freiwilligenarmee im Süden Russlands, unterschied sich davon grundsätzlich. Budnickij korrigiert die eingefahrenen Interpretationsschemata dieser Politik in der Forschung, beschreitet den Weg der Pluralisierung und Differenzierung ihrer Geschichte. Für den Autor sind die weiße Bewegung und der Antisemitismus keine Synonyme. Im betrachteten Zeitraum sei die Politik der antibolschewistischen Kräfte keineswegs einheitlich gewesen – getragen nicht nur von ideologischen Überlegungen, sondern auch vom politischen Pragmatismus. Für die Weißen sei die „jüdische Frage“ zur Frage des politischen und militärischen Überlebens ihrer Bewegung unter den Bedingungen des Bürgerkrieges geworden; sie habe außerdem ein bedeutendes außenpolitisches Gewicht erhalten. Während der Formierungs- und Konsolidierungsphase der Bewegung, unter anderem im Süden Russlands, hätten ihre Vertreter im Geiste der jüdischen Gesetzgebung der Provisorischen Regierung eine „liberale“ (Budnickij) Politik gegenüber den Juden verfolgt. Auf diese Weise sei es ihr gelungen, sich die Unterstützung der liberalen (genauer gesagt der um die Kadettenpartei organisierten) politischen und ökonomischen Elite des Judentums zu sichern, die das Wirtschafts- und Sozialprogramm der Sowjets ablehnte. Das machte auch die Tätigkeit der nationalen jüdischen Organisationen und Vereinigungen möglich – von deren politischen bis hin zu den kulturellen Aktivitäten. Doch die Wende auf dem Kriegsschauplatz zugunsten der Bol’ševiki sowie der Verlust der politischen Macht und der Massenbasis durch die Weißen hätten dazu geführt, dass sie aus pragmatischen Gründen und mangels einer anderen politischen Integrationsidee begonnen hätten, den Antisemitismus als Instrument der Mobilisierung und der Konsolidierung der eigenen Reihen einzusetzen (S. 365). Doch auch danach sei der Antisemitismus von oben weniger lanciert als toleriert worden; er habe seine Drahtzieher nicht innerhalb des Oberkommandos, sondern in den mittleren und unteren Führungskadern der Truppen gehabt. Auf der anderen Seite bekämpften einige Vertreter des weißen Oberkommandos, wie Baron Vrangel’, in den ihnen unterstellten Truppen die Antisemiten mit drastischen Mitteln. Schließlich habe von der Haltung der Weißen in der „jüdischen Frage“ auch die Unterstützung der Entente und der politisch einflussreichen Kreise des Judentums in der westlichen Welt abgehängt (S. 216). Im Bestreben, mit Hilfe der Weißen dem Bolschewismus den Garaus zu machen, ignorierten westliche Diplomaten freilich, so Budnickij, die antisemitischen Gewaltexzesse in Russland (S. 412). Indes sei der Antisemitismus zu keinem Zeitpunkt die offizielle Ideologie der Weißen gewesen, man könne ihn bestenfalls mit P. Kenez für eine „Ersatzideologie der Weißen Bewegung“ halten. Der Autor schlägt vor, diese Ideologie im Traditionskontext der politischen Kultur der russischen Armee vor der Revolution sowie als „Reaktion auf die Revolution“ und ihre politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kataklysmen zu betrachten. Es ist allerdings zu bemerken, was auch der Autor selbst sicher zugeben würde, dass die „Farbe des Lackmuspapiers“ nicht immer aussagekräftig war. Wie der Tatbestand des – nennen wir ihn so – „roten Antisemitismus“ zeigt, war nicht jeder bol’ševik gleich ein Freund der Juden. Auch auf die Gleichsetzung der Weißen mit dem Antisemitismus ist zu verzichten.

Antisemitische Mythen, politischer Zynismus und politische Inkompetenz, wirtschaftliche und soziale Gegensätze, allgemeiner Sittenverfall, Rachegelüste und Besitzgier, Irrationalität der menschlichen Psyche (das gilt sowohl für die Roten als auch für die Weißen) schufen während der Revolution und des Bürgerkrieges eine Atmosphäre, in der die antijüdischen Pogrome möglich wurden, deren ungeheure Zahl Budnickij in seiner Studie nennt. Die antijüdische Gewalt desintegrierte und demoralisierte die weiße Bewegung von innen, wie sie ihr moralisches Kapital in den Ländern der Entente schmälerte (S. 339). Beides bedingte die politische und militärische Katastrophe des antibolschewistischen Widerstandes mit. Der Autor weigert sich, diese Exzesse der antijüdischen Gewalt als „Pogrome“ zu bezeichnen. Dagegen sprächen ihre Maßstäbe, die Teilnahme der regulären Truppen, die Involviertheit der politischen Spitze der jeweiligen Staatsgebilde sowie die enorm große Zahl der Opfer. So seien diese Exzesse eher in eine Reihe mit den Gewalttaten und Morden an Juden während des Aufstandes von Bogdan Chmel’nickij im 17. Jahrhundert und mit dem Holocaust zu stellen (S. 7). Die Entscheidung der Juden für die Roten (sofern man auf diese Art und Weise über die politische Orientierung einer großen nationalen Gemeinschaft sprechen kann), sei von der Einsicht getragen gewesen, dass diese eine reale Macht darstellten, die in der Lage war, ihnen Schutz vor der Gewalt zu gewähren (S. 493), sowie von weiteren Überlegungen, die bereits oben thematisiert wurden. Diese Wahl ist mehr als verständlich.

Lilia Antipow, Erlangen/Nürnberg

Zitierweise: Lilia Antipow über: Oleg V. Budnickij: Rossijskie evrei meždu krasnymi i belymi 1917–1920. Izdat. Rosspėn Moskva 2006. ISBN: 5-8243-0666-4 , in: http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Antipow_Budnickij_Rossijskie_evrei.html (Datum des Seitenbesuchs)