Aleksandr I. Filjuškin Andrej Michajlovič Kurb­s­kij. Prosopografičeskoe issledovanie i ger­me­nev­tičeskij kommentarij k poslanijam Andreja Kurbskogo Ivanu Groznomu [Andrej Mi­chaj­lovič Kurbskij. Prosopographische Untersuchung und hermeneutischer Kommentar zu den Send­schreiben des Andrej Kurbskij an Ivan Groz­nyj]. Izdat. Sankt-Peterburgskogo universiteta S.-Peterburg 2007. 620 S.

Kurbskij ist in der Forschung neuerdings in Mode gekommen und dies trotz der Tatsache, dass es kaum möglich ist, neues Material aufzutun. Infolgedessen arbeitet sich der Leser durch ermüdende methodischen Erwägungen über den Inhalt und den Zweck von Prosopographie und Hermeneutik durch, geboten wird dann nur eine Biographie Kurbskijs, die meine eigene Arbeit über Kurbskij im russischen Sprachraum bekannt macht, aber nichts Neues bringt.

Origineller in der Kurbskij-Forschung ist die Zusammenstellung der Rolle Kurbskijs in der schönen, der wissenschaftlichen und in der pädagogischen Literatur. Hier hätte man aus dem Thema mehr machen können, wenn man den geistesgeschichtlichen Rahmen für die ernst zu nehmenden Darstellungen schärfer ausgeleuchtet und bei den Schulbüchern die von den jeweiligen Ministerien vorgegebenen pädagogischen Ziele sichtbar gemacht hätte. Selbst über Eisensteins Film von 1944, dem immerhin im Westen eigene Untersuchungen gewidmet wurden, erfährt man beispielsweise nur, er enthalte die Quintessenz des Stalinschen Diskurses über Ivan Groznyj, die Rolle Kurbskijs orientiere sich deutlich am Szenarium des Schicksals von Stalins Mitarbeitern, Eisensteins Bild Kurbskijs fehle es an einer konsequenten Durchgestaltung des Wandels eines auf den Ehemann Ivan eifersüchtigen Liebhabers zum Widersacher des bedeutenden, weil Russland zum Einheitsstaat umformenden Zaren Ivan (S. 149–151). Verdienstvoll ist der Hinweis auf das Internet mit politischen Satiren, in denen Kurbskij (Berezovskij, Chodorkovskij) gegen Putin polemisiert.

Zum Kern des Forschungsprojektes kommt man in Teil II. Die Arbeit beruht auf der Idee A. V. Karamaškins, man müsse einen vollständigen hermeneutischen Kommentar im Sinne R. Picchios (The Function of Biblical Thematic Clues in the Literary Code of Slavia Orthodoxa, in: Slavica Hierosolymitana 1 (1977) S. 1–31) schaffen, um über das Sichtbarmachen des biblischen Kontextes zu verstehen, was der Zeitgenosse bei der Lektüre des Textes empfunden haben mag. Also weist der Verfasser an einzelnen Wörtern oder Satzfragmenten nach, welche Bibelstelle direkt zitiert oder auf welche angespielt wird; er gibt einen knappen Hinweis, in welcher russisch-literarischen Tradition das Zitat stehen mag und verweist in der genetischen Analyse auch auf Parallelstellen bei Kurbskij selbst. Der genetischen Analyse folgt jeweils eine Interpretation der Textstelle, eine Einordnung in den historischen Kontext. Es geht um das Lesen „dicht“ am Text. Hier kann man trotzdem anders interpretieren als Filjuškin, beispielsweise Kurbskij sich intellektuell weiterentwickeln lassen: „Naturrecht“ verbunden mit einem Widerstandsrecht als die Basis des Gesellschaftsvertrages mit einem Schutz der Untertanen vor der Willkür der Obrigkeit lernt er erst im Westen kennen (S. 475). Und hier hat er nur einen Vorläufer in Moskowien, Fedor Karpov, offenbar einen intellektuellen Außenseiter. Die politische Relevanz von „estestvennyj zakon“ geht leider unter in einer Darstellung des altrussischen Wortkonzeptes von estestvo, estestvennyj als „Natur, Wesen, natürlich, angeboren, artspezifisch“, das Kurbskij auch im Westen weiterhin kennt und anwendet. (Vgl. J. Besters-Dilger Die Dogmatik des Johannes von Damaskus in der Übersetzung des Fürsten Andrej M. Kurbskij (1528–1583). Freiburg/Br. 1995 [= Monumenta Linguae Slavicae Dialecti Veteris. Fontes et Dissertationes 35], S. 684–685. Merkwürdigerweise fehlt das ganze Wortfeld im Wörterbuch des Altukrainischen.) Korrekter als der ausschließliche Rückbezug auf das Altrussische wäre für die Spätschriften eine Einbeziehung des in der Literatursprache des Groß­fürstentums Litauen Üblichen gewesen, da sich Kurbskijs Stil zunehmend durch „Westrussisches“ auszeichnet.

Nach der Textanalyse wird eine zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse, was der Zeitgenosse mit dem Text wohl angefangen haben mag, vermisst. Und für den theologischen Hintergrund der Polemik des Bojaren mit seinem Herrscher greift Filjuškin, Picchio wörtlich nehmend, nämlich nur die Bibel berücksichtigend, zu kurz. Es gab außer der Bibel zumindest einen Kontext, den sowohl der Zar als auch die Zeitgenossen mit Kurbskijs erstem Brief an den Zaren mitgehört haben, die Liturgie. Es geht vor allem um den Text des Dienstagsabendgottesdienstes der 4. Woche nach Ostern, die Worte des Herren vom Kreuz in der Karfreitagsliturgie u.a.m. Die Gliederung des Briefes – Worte des Herren, Aufzählung der Werke des Heilands für die Juden und Drohung mit Vergeltung für die Undankbarkeit – folgt der Karfreitagsliturgie. Eine Selbststilisierung des Fürsten als unverdient leidender Christus am Kreuz musste Ivan IV. zum Explodieren bringen.

Filjuškin behauptet, meine Edition des „Novyj Margarit“ bis Lieferung 17 (S. 7, Anm. 14) zu kennen. (Ein vollständiges Pflichtexemplar liegt beim Historischen Museum (GIM) und der Hand­schriftenabteilung der Russländischen Staats­bibliothek in Moskau.) Gelesen hat er sie aber nicht. Hier findet sich nämlich mein „literarischer Kurbskij“, in meiner Kurbskij-Biographie aber nur der Politiker (Lieferung 15–17).

Das mindeste, was Filjuškin hätte leisten müssen, wäre gewesen, den relevanten altrussisch-kirchenslavischen Liturgietext beizubringen – mir stand nur eine serbisch-kirchenslavische Vorlage zur Verfügung. Das mag einfach klingen, ist es vielleicht auch, doch mag es im Russland des 16. Jahrhunderts so unterschiedliche Liturgietexte gegeben haben wie Fassungen des Psalter, was mich seinerzeit überraschte.

Unerledigt blieb auch die schlichte Aufgabe, nach untergründig verborgenen Texten in außer­biblischer theologischer Literatur zu suchen. Erst danach sollte man einen hermeneutischen Kommentar zu Kurbskij in Angriff nehmen.

Inge Auerbach, Marburg/Lahn

Zitierweise: Inge Auerbach über: Aleksandr I. Filjuškin: Andrej Michajlovič Kurbskij. Prosopografičeskoe issledovanie i germenevtičeskij kommentarij k poslanijam Andreja Kurbskogo Ivanu Groznomu. Izdat. Sankt-Peterburgskogo universiteta S.-Peterburg 2007. ISBN: 978-5-288-04251-5, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Auerbach_Filjuskin_Andrej_Kurbskij.html (Datum des Seitenbesuchs)