Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Band 58 (2010) H. 3, S. 412-415
Oleg V. Khlevniuk Master of the House. Stalin and His Inner Circle. Translated by Nora Seligman Favorov. Yale University Press New Haven, London 2009. XVII, 313 S. = The Yale-Hoover Series on Stalin, Stalinism, and the Cold War. ISBN: 978-0-300-11066-1.
Paul R. Gregory Terror by Quota. State Security from Lenin to Stalin (An Archival Study). Yale University Press New Haven, London 2009. VIII, 346 S., Tab. = The Yale-Hoover Series on Stalin, Stalinism, and the Cold War. ISBN: 978-0-300-13425-4.
The Lost Politburo Transcripts. From Collective Rule to Stalin’s Dictatorship. Ed. by Paul R. Gregory and Norman Naimark. Yale University Press New Haven, London 2008. VIII, 271 S., Tab. = The Yale-Hoover Series on Stalin, Stalinism, and the Cold War. ISBN: 978-0-300-13424-7.
Terror sei die einfachste und effizienteste Methode gewesen, um die Gesellschaft zu disziplinieren und in Angst und Schrecken zu halten, schreibt Chlevnjuk in seinem Buch über Stalin und seinen inneren Kreis. Und er lässt keinen Zweifel an der Urheberschaft dieser Gewalt. Das Argument revisionistischer Historiker, der Diktator sei überhaupt nicht imstande gewesen, den Terror durchzusetzen und zu kontrollieren, weil er nur Mittler zwischen konkurrierenden Fraktionen in der Parteiführung gewesen sei, lässt Chlevnjuk nicht gelten. Es gebe keinen einzigen dokumentarischen Nachweis für die These, dass der Apparat von rivalisierenden Gruppen zersetzt worden sei. Auch von Ressortkonflikten könne keine Rede sein. Natürlich weiß auch Chlevnjuk, dass Stalin die Sowjetunion keiner totalen Kontrolle unterwerfen konnte. Aber er konnte offenkundig nicht nur Feinde und Widersacher, sondern auch Freunde und Verwandte töten, ohne dass er 1937 dafür noch die Zustimmung des Politbüros benötigt hätte. Stalin führte Regie in den Moskauer Schauprozessen, er entschied, was die Angeklagten auszusagen hatten, und schrieb vor, welche Urteile gefällt werden mussten. Er zwang seine Helfer im Sicherheitsapparat, Verschwörungen aufzudecken und Feinde zu entlarven, und er erteilte im Juli 1937 den Befehl, Menschen nach Quoten zu töten. Stalin bekannte sich zu seinen Untaten, er unterschrieb die Terrorbefehle selbst und verlangte von seinen Gefolgsleuten, sich an der Exekution der Massenvernichtung zu beteiligen. Chlevnjuk beschreibt, wie der Diktator nach und nach aus der Rolle des Ersten unter Gleichen hinauswuchs und sich durch die Inszenierung von Verschwörungen und Bedrohungen allmählich zum Herrscher über Leben und Tod erhob. Davon zeugen nicht nur die Briefe, die der Diktator an seine Gefolgsleute schrieb, sondern auch die Reaktionen der Provinzpotentaten, die in vorauseilendem Gehorsam mordeten und folterten. Stalin erwartete von den Parteiführern in den Provinzen und von den Schergen des NKVD, dass sie es beim Töten zu Höchstleistungen brachten, aber er erwartete auch, dass sie ihn um Erlaubnis baten, bevor sie Menschen umbrachten, deren Tod er nicht ausdrücklich befohlen hatte. Kein Mord ohne Zustimmung des Diktators! Dieser Regel hatten sich die Täter überall in der Sowjetunion zu unterwerfen. Chlevnjuk lässt keinen Zweifel daran, dass Gewalt und Massenterror ein Werk Stalins waren, der, als er niemanden mehr zu fürchten hatte, alle Grenzen überschritt. Aber wie konnte es in einer institutionell unterentwickelten Diktatur so weit kommen? Darauf gibt Chlevnjuk eine einfache, aber zutreffende Antwort: weil man für die Erzeugung von Furcht und Schrecken keine perfekten Kontrollinstrumente benötigt. Die absolute Macht verwirklicht sich durch die Erzeugung systematischen Terrors. Wenn jedermann Angst hat, wenn niemand sicher sein kann, dass der Freund ein Denunziant ist, und wenn man jederzeit damit rechnen muss, ein Opfer der Gewalt zu werden, dann wird man nur noch an das eigene Überleben denken. Wer Angst hat, wird versuchen, Täter zu sein, um nicht Opfer zu werden. Die totalitären Wirkungen der stalinschen Diktatur hingen also überhaupt nicht von ihrer administrativen Durchsetzungsfähigkeit, sondern von ihrem Vermögen ab, Chaos zu erzeugen und Erwartungssicherheit zu zerstören. Wie aber gelang es dem Diktator, solche Situationen herbeizuführen, und wie beherrschte er sie?
Auf diese Frage versucht Paul Gregory eine Antwort zu geben. Alle sprechen von Ideen und Überzeugungen. Gregory nicht. Stalin habe gewusst, dass die Diktatur gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzt werden musste. Deshalb habe sie auf Repressionen auch nicht verzichten können. „Stalin, like other Bolshevik leaders, had remarkably little confidence in the message of communism.“ (S. 265) Gregory unterstellt, dass es Stalins Ziel gewesen sei, absolute Macht zu akkumulieren. Diesem Ziel habe er alle ideologischen Erwägungen untergeordnet. Stalins Gewaltherrschaft sei rational gewesen, weil sie Zwecke erfüllt habe; sie wäre im Gegenteil irrational gewesen, wenn sie auf die Anwendung exzessiver Gewalt verzichtet hätte. Denn wer anderen seinen Willen aufzwingen will, muss mit Widerstand rechnen. Stalin brach ihn mit Gewalt, und er nutzte die Möglichkeiten, die sich ihm boten, Macht durch unaufhörlichen Terror zu akkumulieren. Warum aber leistete niemand Widerstand? Wie konnte es geschehen, dass Stalin selbst Freunde und Gefolgsleute töten konnte, ohne jemals damit rechnen zu müssen, selbst getötet zu werden?
Nicht einmal vor der Prätorianergarde, dem NKVD, musste Stalin auf der Hut sein. Stalins Henker waren keine ideologischen Überzeugungstäter, sondern Techniker der Gewalt, die ihr Handwerk verstanden und auf Anweisung des Despoten folterten und mordeten. Stalin betraute nur solche Personen mit dem Handwerk des Tötens, die keine andere Wahl hatten, als sich ihm zu unterwerfen: Sadisten und Psychopathen, Kriminelle oder Angehörige nationaler Minoritäten, die auf die schützende Hand Stalins angewiesen waren. Stalin belohnte die Prätorianer mit Geldgeschenken, Orden und Luxusgütern, erlaubte ihnen, sich die Wohnungen und den Besitz ihrer Opfer anzueignen und brachte sie auf diese Weise in Misskredit gegenüber jedermann. Die Tschekisten hatten also keine andere Wahl, als dem Diktator entgegenzuarbeiten. Im Jahr 1937, auf dem Höhepunkt des Großen Terrors, überboten die NKVD-Dienststellen einander bei der Übererfüllung der Tötungsquoten. Gregory findet für den organisierten Irrsinn eine rationale Erklärung. Die NKVD-Chefs in den Provinzen hätten zwar mit dem Diktator und seinem Sicherheitschef kommunizieren können, sie hätten aber nicht gewusst, wie das Mordprogramm in den übrigen Provinzen ausgeführt worden sei. Im Wissen, dass der Diktator von ihnen erwartete, die Quoten zu übertreffen, hätten die Tschekisten möglichst viele Menschen umgebracht, um im Wettbewerb zwischen den NKVD-Dienststellen nicht zurückzubleiben. Der Massenmord, so könnte man mit Gregory sagen, ergab sich nicht aus der ideologischen Zurichtung, sondern aus der Furcht der Täter. Der stalinistische Terror gewann seine mörderische Dynamik durch die Angst der Täter, eines Tages selbst zu erleiden, was sie ihren Opfern angetan hatten.
Die Praktiken des Stalinismus entstanden durch Gewöhnung und Ritualisierung. Ihnen ist ein von Paul Gregory und Norman Naimark herausgegebener Aufsatzband gewidmet, der beschreibt, wie sich das Politbüro von einem Ort der Diskussion in einen Ort der Abrichtung und Disziplinierung verwandelte, den Stalin zu Beginn der dreißiger Jahre nach Belieben beherrschen konnte. An unterschiedlichen Beispielen demonstrieren Robert Service, Alexander Vatlin, Hiroaki Kuromiya, Oleg Chlevnjuk und Charters Wynn, wie sich das Diskussionsklima im Politbüro nach und nach veränderte und die Atmosphäre des Verdachts auch dort um sich griff. Stalin, der nur selten sprach, führte während der Sitzungen Regie, sprach Beschuldigungen aus, zwang Gefolgsleute oder Widersacher, die sein Misstrauen geweckt hatten, sich vor dem Politbüro zu erniedrigen und zu widerrufen. Vor allem aber gelang es ihm, alle Mitglieder des Politbüros auf unumstößliche Regeln einzustimmen. Eine dieser Regeln lautete, dass vor dem Diktator nichts verheimlicht werden dürfe, dass ihm jede Verabredung und jedes Gespräch, das ohne sein Wissen stattfand, gemeldet und jeder Verdacht, den er gegen jemanden aussprach, sogleich als Wahrheit bestätigt werden müsse. Der Diktator konnte kein Lügner sein. Diese Regeln hatten zu Beginn der dreißiger Jahre alle im Politbüro verbliebenen Mitglieder des engeren Führungskreises begriffen, und als Stalin gegen sie selbst den Verdacht aussprach, konnten sie sich nicht mit dem Hinweis herausreden, solche Vorwürfe träfen auf sie selbst nicht zu. Die rohe Beschimpfung und Erniedrigung von Abweichlern war das Vergemeinschaftungsprinzip der Stalinschen Gefolgschaft. Sie bereiteten sie psychologisch darauf vor, potentielle Gegner physisch zu vernichten, auch deshalb, weil sie sich der Geiselhaft des Tyrannen bedingungslos ausgeliefert hatte. Eine Geschichte des Stalinismus, die nicht auch von der Despotie spricht, erzählt also nur die halbe Wahrheit. Diese Einsicht kann man aus den Büchern Chlevnjuks und Gregorys auch gewinnen.
Zitierweise: Jörg Baberowski über: Oleg V. Khlevniuk Master of the House. Stalin and His Inner Circle. Translated by Nora Seligman Favorov. Yale University Press New Haven, London 2009. XVII. = The Yale-Hoover Series on Stalin, Stalinism, and the Cold War. ISBN: 978-0-300-11066-1; Paul R. Gregory Terror by Quota. State Security from Lenin to Stalin (An Archival Study). Yale University Press New Haven, London 2009. VIII.= The Yale-Hoover Series on Stalin, Stalinism, and the Cold War. ISBN: 978-0-300-13425-4; The Lost Politburo Transcripts. From Collective Rule to Stalin’s Dictatorship. Ed. by Paul R. Gregory and Norman Naimark. Yale University Press New Haven, London 2008. VIII. = The Yale-Hoover Series on Stalin, Stalinism, and the Cold War. ISBN: 978-0-300-13424-7, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 412-415: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Baberowski_SR_Stalinismus_als_Despotie.html (Datum des Seitenbesuchs)
*Sammelrezension der Bücher: Oleg V. Khlevniuk Master of the House. Stalin and his Inner Circle. Translated by Nora Seligman Favorov. Yale University Press New Haven, London 2009. XVII, 313 S. = The Yale-Hoover Series on Stalin, Stalinism, and the Cold War. ISBN: 978-0-300-11066-1; Paul R. Gregory Terror by Quota. State Security from Lenin to Stalin (An Archival Study). Yale University Press New Haven, London 2009. VIII, 346 S., Tab. = The Yale-Hoover Series on Stalin, Stalinism, and the Cold War. ISBN: 978-0-300-13425-4; The Lost Politburo Transcripts. From Collective Rule to Stalin’s Dictatorship. Ed. by Paul R. Gregory and Norman Naimark. Yale University Press New Haven, London 2008. VIII, 271 S., Tab. = The Yale-Hoover Series on Stalin, Stalinism, and the Cold War. ISBN: 978-0-300-13424-7.
1Hiroaki Kuromiya Stalin in the Light of the Politburo Transcripts, in: Gregory/Naimark The Lost Politburo Transcripts, pp. 41–56, hier S. 53.
2Im September 1945 ließ Lavrentij Berija auf Anweisung Stalins neue Abhöranlagen in der Wohnung Andrej Vyšinskijs einbauen. GARF, Fond 9401, opis’ 2, delo 99, l. 386; Vgl. auch: V.N. Chaustov / V.P. Naumov (sost.) Lubjanka. Stalin i NKVD – NKGB – GUKR „Smerš“. 1939 – mart 1946, Moskva 2006, S. 539–540.
3Nikita Petrov Pervyj predsedatel’ KGB Ivan Serov. Moskva 2005, S. 106.
4Vgl. dazu auch die Überlegungen von Heinrich Popitz und Jan-Philipp Reemtsma zur Organisationsfähigkeit überlegener Gruppen: Heinrich Popitz Phänomene der Macht. Tübingen 2004, 2. Aufl., S. 187–209; Jan-Philipp Reemtsma Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg 2008, S. 158–162.
5Gregory Terror by Quota, S. 277.