Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 61 (2013), 1, S. 144-146
Verfasst von: Joachim Bahlcke
Zdeněk V. David: Realism, Tolerance, and Liberalism in the Czech National Awakening. Legacies of the Bohemian Reformation. Washington, D.C.: Wilson Center Press; Baltimore, MD: The Johns Hopkins University Press, 2010. XXI, 479 S. ISBN: 978-0-8018-9546-3.
Der amerikanische Osteuropahistoriker, Bibliothekar und Kirchenhistoriker Zdeněk V. David, der 1931 in Blatná (Tschechoslowakei) geboren wurde und seit 1947 in den Vereinigten Staaten von Amerika lebt, lehrte und wirkte an mehreren nordamerikanischen Forschungseinrichtungen, zuletzt bis 2002 am Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington, D.C. Er publizierte wichtige Überblicksstudien zur ostmittel- und osteuropäischen Geschichte, 1984 beispielsweise zusammen mit Robert A. Kann das Werk „The Peoples of the Eastern Habsburg Lands, 1526–1918“, trat aber vor allem als Spezialist für die evangelische Religions- und Kirchengeschichte Böhmens in Spätmittelalter und Früher Neuzeit hervor. Seit den frühen neunziger Jahren organisierte er zusammen mit David R. Holeton und Vilém Herold insgesamt zehn Symposien zum Thema „The Bohemian Reformation and Religious Practice“, deren Ergebnisse in mehreren Sammelbänden publiziert wurden. Einen hervorragenden Einblick in Davids wichtigste, dem 15. und 16. Jahrhundert zugehörige Forschungsfelder erlaubt seine 2003 vorgelegte Monographie „Finding the Middle Way. The Utraquists’ Liberal Challenge to Rome and Luther“, die sich gleichsam als Vorgeschichte der vorliegenden, dem Vermächtnis und der Wirkungsgeschichte der böhmischen Reformation im 18. und 19. Jahrhundert geltenden Untersuchung lesen lässt. Schon 2003 setzte sich David mit dem Nachwirken der von ihm in besonderer Weise betonten, gelegentlich auch überbetonten Liberalität und Toleranz des Utraquismus auseinander, der in Böhmen zwar nicht in seinen religiösen Fundamenten, wohl aber als säkularer Diskurs in der Epoche der sogenannten nationalen Wiedergeburt eine Renaissance erlebt habe.
Damit ist bereits das Hauptanliegen des vorliegenden Werkes benannt, mit dem David, wie es gleich zu Beginn seines Vorwortes heißt, „den Charakter und die Formierung des modernen Nationalbewusstseins und der politischen Kultur in Zentral- und Osteuropa“ neu bestimmen und bisherige Ansichten, wonach „nationale Ideologien“ lediglich Konstrukte, wenn nicht gar Erfindungen seien, korrigieren will (S. XIII). Dass er im Grunde eine alte Frage neu stellt, macht David einleitend am Beispiel der berühmten Kontroverse zwischen Tomáš G. Masaryk und Josef Pekař in der Zeit um 1900 deutlich, bei der es um die geistigen Wurzeln jenes im späten 18. Jahrhundert einsetzenden Prozesses ging, der allgemein als Erwachen eines modernen tschechischen Nationalbewusstseins umschrieben wird. Masaryk hatte damals von einem durch die Gegenreformation in der Epoche der „Finsternis“ (temno) unterbrochenen, nicht aber unterbundenen Ideentransfer aus der Epoche der böhmischen Reformation hin zum 19. Jahrhundert gesprochen; Pekař dagegen war an einer Integration und Aufwertung des 17. und 18. Jahrhunderts gelegen, in dem er schließlich auch die geistigen und politischen Ursprünge des späteren nationalen Erwachens ausmachte. David selbst positioniert sich in seinem Buch unmissverständlich an der Seite Masaryks – mit dem wichtigen Unterschied freilich, dass er anders als der spätere erste Staatspräsident nicht in den Böhmischen Brüdern, sondern in den Utraquisten die entscheidenden Ideenträger innerhalb der böhmisch-hussitischen Reformation ausmacht: Diese Strömung sei von der katholischen Aufklärung wiederentdeckt und neu belebt worden, ihr intellektuelles Profil habe das tschechische Geistesleben und die politische Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ganz wesentlich geprägt.
Methodisch lässt sich Davids Studie, die ähnlich wie sein Werk von 2003 in den meisten Kapiteln auf früher publizierte Einzelstudien zurückgreift und daher mitunter etwas zusammengesetzt wirkt, nicht leicht einordnen. Ausgangspunkt der ersten, zeitlich weit zurückgreifenden Abschnitte sind utraquistische theologische Drucke des 16. Jahrhunderts, die zwei Jahrhunderte später das Interesse böhmischer Aufklärer fanden und zum Teil neu aufgelegt wurden. Für den Kirchen-, aber auch für den Literatur- und Philosophiehistoriker werden hier wichtige und weit über Böhmen hinaus aufschlussreiche Zusammenhänge aufgezeigt und diskutiert. Ähnliches gilt für die umfangreichen Darlegungen zur Rolle von Herder, Kant, Fichte, Schelling, Bolzano und anderen, heute weniger bekannten intellektuellen Autoritäten im österreichisch-böhmischen 19. Jahrhundert. Im Anhang liefert David eine Zusammenstellung der Philosophieprofessoren an der Prager Karls-Universität – und damit eine Liste derjenigen Persönlichkeiten, die in seinem Buch bevorzugt untersucht werden. Dass angesichts der Weite des geistesgeschichtlichen Zugriffs die Hälfte des Buches nur aus Anmerkungen, Quellenverweisen und Literaturanmerkungen besteht, wird daher kaum überraschen. So reich die Befunde im Einzelnen auch sind, so problematisch ist deren eigentlicher Zusammenhang mit der Hauptthese des Buches. Als erhebliches Manko erweist sich vor allem das Fehlen einer problemorientierten, zentrale Begriffe klärenden Einleitung, in der das methodische Vorgehen sehr viel klarer hätte benannt werden müssen als in dem nur wenige Seiten umfassenden Vorwort. Oft scheint eher die moderne, schon im Buchtitel aufscheinende Begrifflichkeit die Klammer zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert darzustellen, nicht aber der tatsächliche Sachverhalt, dessen fehlende empirische Nachweise Josef Pekař bereits vor mehr als einem Jahrhundert gegenüber Masaryk beklagt hat. Fraglich bleibt schließlich auch, ob man über „nationale Ideologien“ im 19. Jahrhundert ohne jeden Seitenblick auf politische, gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen sprechen und urteilen kann.
Ein Gesamturteil über das sehr sorgfältig zusammengestellte, bestens redigierte Werk muss insofern schwer fallen: Als Sammlung verstreuter, zudem in verschiedenen Sprachen publizierter Aufsätze hat das Werk von David – neben dem bereits 2003 erschienenen Buch über den Utraquismus als via media zwischen Katholizismus und Luthertum – seinen Wert, zumal die einzelnen Bausteine in sich und für sich weniger ambitioniert wirken. Als Monographie dagegen, die weit über die regionale Fallstudie Böhmen hinaus einen völlig neuen Interpretationsansatz zur Entstehung modernen Nationalbewusstseins im östlichen Europa zu liefern verspricht, vermag das Werk nicht recht zu überzeugen.
Joachim Bahlcke, Stuttgart
Zitierweise: Joachim Bahlcke über: Zdeněk V. David: Realism, Tolerance, and Liberalism in the Czech National Awakening. Legacies of the Bohemian Reformation. Washington, D.C.: Wilson Center Press; Baltimore, MD: The Johns Hopkins University Press, 2010. XXI, 479 S. ISBN: 978-0-8018-9546-3, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Bahlcke_David_Realism_Tolerance_and_Liberalism.html (Datum des Seitenbesuchs)
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