Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 134-135
Verfasst von: Arnd Bauerkämper
Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrung und Demokratieentwicklung. Hrsg. von Volkhard Knigge / Hans-Joachim Veen / Ulrich Mählert / Franz-Josef Schlichting. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2011. 248 S., 1 Abb. = Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, 17. ISBN: 978-3-412-20794-6.
Der 2012 verstorbene englische Historiker Eric Hobsbawm hat das „kurze“ 20. Jahrhundert (1914 bis 1989) als „Zeitalter der Extreme“ bezeichnet, vor allem weil es von den kommunistischen und faschistischen Diktaturen ebenso geprägt war wie von den beiden Weltkriegen. Wie die in dem Band veröffentlichten Beiträge zu dem 9. Internationalen Symposium der Stiftung Ettersberg zeigen, haben diese einschneidenden Ereignisse und die damit verbundenen Erfahrungen auch die Erinnerungskulturen der Europäer nachhaltig imprägniert, wenn auch durchaus unterschiedlich. So ist der Erste Weltkrieg in Frankreich und in Großbritannien im kulturellen Gedächtnis deutlich tiefer verankert geblieben als in Deutschland, wo die totale Niederlage 1945 nicht nur mit dem Zusammenbruch der NS-Diktatur einherging, sondern zumindest im Rückblick die mehr als vier Jahrzehnte andauernde Teilung des Landes einleitete. Diese Differenzen, aber auch die wechselseitigen Einflüsse über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg sind in dem Haus der Europäischen Geschichte aufzunehmen, dessen Einrichtung das Europäische Parlament 2007 beschloss. Bereits im Oktober 2008 legte ein internationaler Sachverständigenausschuss seine (im Anhang des Bandes abgedruckten) konzeptionellen Überlegungen zu dem Haus vor, das als Forum historisches Wissen vermitteln und einen Dialog zwischen den Europäerinnen und Europäern initiieren soll.
Jedoch ist in Europa bislang keine intensive Diskussion über das Projekt geführt worden, weil sich eine europäische Öffentlichkeit noch kaum herausgebildet hat. Überdies ist die Geschichte Europas zerklüftet geblieben, wie Etienne François in seinen weiterführenden Bemerkungen zu den Grundlagen einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft zu Recht hervorhebt. Überzeugend argumentiert er, dass diese letztlich auf den „zahlreichen Prozessen der Vielfalt und der Konflikte, des Austauschs und der Aneignung, der Einbeziehung und der Ausgrenzung“ (S. 16) beruht. In dieser Konstellation könnten gemeinsame Bezugspunkte einer europäischen Erinnerungskultur allenfalls in den Gründungsmythen, in geteilten (verbindenden wie trennenden) Erinnerungsorten und in der problematischen Abgrenzung von der Außenwelt – z.B. vom muslimisch geprägten Kulturraum – gefunden werden. François zeigt aber, dass diese Zugänge durchaus aufschlussreiche Erkenntnisse und Einsichten zum europäischen Gedächtnis eröffnen und Opferkonkurrenzen ebenso vermeiden wie gegenseitige Schuldaufrechnungen.
Stefan Troebst arbeitet heraus, dass Europa besonders im Hinblick auf Diktaturen ein geteilter Erinnerungsraum ist. Während diese Regimes im kulturellen Gedächtnis West- und Nordeuropas nach 1945 sukzessive zurückgetreten sind, prägen die kommunistischen bzw. autoritären Diktaturen die Erinnerungskulturen in den ost- und südeuropäischen Staaten noch in der Gegenwart. Allerdings bleibt fraglich, ob diese Zweiteilung in Bezug auf die Ost-West-Kluft des Kalten Krieges eine „Überbrückungsfunktion“ (S. 171) einnimmt oder nicht vielmehr eine weitere Trennlinie konstituiert. Überdies muss in Rechnung gestellt werden, dass die autoritären Regimes in Griechenland und Spanien bereits in den siebziger Jahren zusammenbrachen, in Osteuropa aber erst 1989/90. Hier ist die Transformation zudem nicht nur durch Demokratisierungsprozesse gekennzeichnet worden, sondern auch mit einem Wiederaufleben des Nationalismus einhergegangen, der das Streben nach staatlicher Souveränität im Anschluss an die lange Fremdherrschaft der Sowjetunion widerspiegelt.
Darüber hinaus sind die Erinnerungskulturen Griechenlands und Spaniens nicht nur von den Diktaturen geprägt, die Georgios Papadopoulos und Francisco Franco bis zur Mitte der siebziger Jahre repräsentierten, sondern jeweils auch von den vorangegangenen Bürgerkriegen. Walther L. Bernecker zeigt in diesem Zusammenhang die Spezifik der spanischen Transición, die auf einer „Art Ehrenabkommen“ (S. 104) zwischen den neuen Eliten und den Trägern der Franco-Diktatur basierte. Damit sollten die Konflikte zwischen Republikanern und Franquisten endgültig beigelegt werden, die Spanien seit 1931 geteilt und im Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 nahezu zerrissen hatten. Auch die Regierung des sozialistischen Ministerpräsidenten Felipe González schrieb von 1982 bis 1996 den Schweigepakt und den Gedächtnisverlust fort, die auf der Iberischen Halbinsel bis zum Jahrtausendwechsel eine umfassende Aufarbeitung der belastenden Vergangenheit verhinderten. Erst eine im Jahr 2000 gegründete Bürgerinitiative, die Leichname von im Bürgerkrieg „verschwundenen“ Opfern der Republikaner exhumieren ließ, hat eine offene Diskussion der Vergangenheit herbeigeführt. Die (selbst)kritische Debatte, die sich daraufhin entwickelte, mündete 2007 in das „Gesetz der historischen Erinnerung“, das den Franquismus erstmals ausdrücklich verurteilte. Allerdings muss im Rückblick offen bleiben, ob die selektive Erinnerung des Bürgerkrieges und der autoritären Diktatur die Demokratisierung Spaniens verzögert oder erst ermöglicht hat.
In Polen ist die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg demgegenüber lange auf die Teilungen des Landes im späten 18. Jahrhundert bezogen worden, von denen sich nach 1945 die im November 1918 konstituierte Zweite Republik leuchtend abhob. Wie Robert Traba argumentiert, war die Erinnerungsdebatte deshalb von einem „polnischen Romantismus“ (S. 74) geprägt. Die öffentlichen Diskussionen konzentrierten sich besonders von 1945 bis 1949, aber auch erneut von 1999 bis 2004 auf Mythen von „Heldentum“ und „Märtyrertum“, die nicht nur die Gedächtnispolitik der Regierungen bestimmten, sondern auch die Belletristik. Angesichts dieser spezifischen Merkmale ist Trabas Plädoyer, die relative Autonomie der polnischen Erinnerungskultur zu respektieren, ebenso nachvollziehbar wie seine Warnung vor der Hegemonie einzelner nationaler Narrative in Europa. Allerdings ist seine Mahnung gegenüber einer Wiedergutmachung durch Geschichtsfälschung (im deutsch-polnischen Verhältnis) übertrieben. Zudem sind abwertende Bemerkungen zur Flucht und Vertreibung der Deutschen unnötig, so der Hinweis, dass er in seinen Forschungen in einem ermländischen Dorf als „Vertriebene“ nur die „,importierten‘ Beamten der örtlichen NSDAP-Strukturen“ identifiziert habe, die „in Wirklichkeit vor der Verantwortung der Rechtsprechung flüchteten“ (S. 77). Die in diesem Befund implizierte Deutung wird dem von Traba selber gesteckten Anspruch der Empathie – „in Erinnerung an die andere Seite“ (S. 78) – nicht gerecht.
Alexander Vatlin konturiert in seinem Beitrag die fragmentierte Erinnerungskultur Russlands, wo nach 1991 die „Idealisierung der vorsowjetischen Zeit“ (S. 126) zugenommen hat. Während der Konsens über den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ weitgehend ungebrochen ist, sind die Erinnerungen an den Stalinismus seit den neunziger Jahren umstritten. Auch die marginale Rolle von Organisationen wie Memorial bietet kaum Anlass zu der Hoffnung Vatlins, dass die „gemeinsame Erinnerung an den Stalin-Terror“ zu einem „Integrationsfaktor für den postsowjetischen Raum“ (S. 132) werden könnte. Der Beitrag beleuchtet vielmehr die Antinomien und Gegensätze in der Erinnerungskultur Russlands. So sollten in Moskau anlässlich der Feiern zum 65. Jahrestag des Kriegsendes im Mai 2010 Bilder Stalins öffentlich gezeigt werden, während zugleich erstmals Truppeneinheiten der NATO an der Siegesparade teilnahmen. Alles in allem hat die „atomisierte Geschichte“ (S. 123) in Russland damit eine widersprüchliche Erinnerungskultur hervorgebracht.
Dieser Befund trifft auch auf Österreich zu, wo das Bekenntnis des Bundeskanzlers Franz Vranitzky, der 1991 eine Mitverantwortung der Österreicher an den nationalsozialistischen Verbrechen eingeräumt hatte, noch keineswegs tief im kulturellen und kommunikativen Gedächtnis verwurzelt ist. In der Nachkriegszeit hatte zwar das Gefallenengedenken die Opferthese, die auf einer selektiven Interpretation der alliierten Moskauer Erklärung vom Oktober 1943 beruhte, implizit eingeschränkt. Vor allem die in den fünfziger Jahren errichteten Kriegerdenkmäler dementierten offenkundig die Behauptung vom erzwungenen Dienst der österreichischen Soldaten in der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS, wie Heidemarie Uhl belegt. Zu Recht hebt sie darüber hinaus vergleichend hervor, dass die Nachkriegsmythen von Opfer und Widerstand keineswegs nur das kulturelle Gedächtnis in Österreich kennzeichneten, sondern auch die Erinnerungskulturen in zahlreichen anderen Staaten Europas. Ebenso wie dort schwand der Einfluss des Narrativs vom Widerstand und der Stellenwert affirmativ-nationaler Erinnerungsdiskurse seit den sechziger bzw. achtziger Jahren auch in anderen Ländern West- und Mitteleuropas.
Diese Ambivalenzen und Widersprüche sind in dem Haus der Europäischen Geschichte offenzulegen, in dem – wie Włodzimierz Borodziej überzeugend argumentiert – die Balance zwischen dem Stolz auf die Errungenschaften der Europäer und der Skepsis gegenüber ihrer Unterdrückung anderer Kulturen gehalten werden muss. Ebenso ist die Spannung zwischen einem europäischen Gemeinschaftsbewusstsein und den Prozessen wechselseitiger nationaler Abgrenzung zu vermitteln. Letztlich setzt ein „supranationales Selbstbewusstsein“ eine „reflektierte Auseinandersetzung mit den gemeinsamen Teilen der Geschichte“ (S. 141) voraus.
Demgegenüber bleiben andere Beiträge zu dem Band zu allgemein. So wird Franziska Augsteins Behauptung, dass Denkmäler – im Gegensatz zu Mahnmälern – keineswegs dem „Geist einer Demokratie“ (S. 149) entsprechen, letztlich nicht der Einsicht gerecht, dass auch demokratisch verfasste Ordnungen der symbolischen Repräsentation bedürfen. Noch einseitiger ist Mária Schmidts nahezu apodiktische Verteidigung des christlichen Kulturerbes und der vorgeblich positiven Rolle des Nationalismus, dessen Kritik sie polemisch „,politisch korrekt‘ denkenden linken Intellektuellen“ (S. 167) zuschreibt.
Insgesamt sind die Aufsätze disparat, auch hinsichtlich der Stellungnahmen zu einem europäischen Gedächtnis. So widerspricht Gilbert Merlio, der den Stellenwert des Zweiten Weltkrieges, des Vichy-Regimes, der Shoah und der kolonialen Vergangenheit Frankreichs in der Memorialkultur des Landes konturiert, Trabas Auffassung, dass unterschiedliche nationale Erinnerungsgemeinschaften bewahrt werden müssten. Günther Heydemann, der die Deutungen des Faschismus und der Resistenza in der Erinnerungskultur Italiens nachzeichnet, erkennt – ebenso wie Etienne François – zumindest Bezugspunkte eines europäischen Gedächtnisses. Generell herrscht aber erhebliche Skepsis gegenüber einer ‚von oben‘ (d.h. von der Europäischen Union) verordneten transnationalen Erinnerungsgemeinschaft vor, gegen die sich vor allem Eckart Conze und Volkhard Knigge wenden. Das Projekt des Hauses der Europäischen Geschichte wird deshalb noch heftige Kontroversen auslösen, aber hoffentlich nicht unvollendet bleiben.
Zitierweise: Arnd Bauerkämper über: Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrung und Demokratientwicklung. Hrsg. von Volkhard Knigge / Hans-Joachim Veen / Ulrich Mählert / Franz-Josef Schlichting. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2011. 248 S., 1 Abb. = Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, 17. ISBN: 978-3-412-20794-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bauerkaemper_Knigge_Arbeit_am_europaeischen_Gedaechtnis.html (Datum des Seitenbesuchs)
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