Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 295-296

Verfasst von: Boris Belge

 

Scott W. Palmer: Dictatorship of the Air. Aviation Culture and the Fate of Modern Russia. Cambridge, New York [usw.]: Cambridge University Press, 2006. XX, 307 S., 60 Abb. ISBN: 978-0-521-13043-1.

Kaum ein Artefakt der sowjetischen Geschichte bringt so viele Probleme und Tendenzen des Stalinismus auf den Punkt wie das im April 1934 fertiggestellte Riesenflugzeug „Maksim Gorkij“, das zum damaligen Zeitpunkt größte Landflugzeug der Welt. Seine Konstrukteure sahen es als eine beeindruckende Zurschaustellung technologischen Fortschritts an, das allein durch seine technischen Daten nicht nur die Sowjetbürger, sondern auch internationale Beobachter von der Modernität der Sowjetunion überzeugen sollte. Die Konstruktion der Maksim Gorkij „ANT-20“ begreift Scott W. Palmer als Ausdruck einer kulturell spezifischen Einstellung zur Fliegerei, die er mit dem kaum zu übersetzenden Terminus air-mindedness charakterisiert (S. 2 f).

Theorem seiner Untersuchung ist, dass diese air-mindedness mehr als nur die Begeisterung für Wissenschaft und Fortschritt beinhaltete. Sie ist für den Historiker vielmehr nur vor dem Hintergrund nationaler Symbol- und Deutungswelten zu entschlüsseln. Palmers Buch ist eine ebenso stringent wie einleuchtend präsentierte Darstellung dieser Welten. Dabei geht es Palmer auch darum, die Zäsur von 1917 für den russisch bzw. russisch-sowjetischen Raum zu hinterfragen. Sein Buch beginnt daher nicht mit der Oktoberrevolution, sondern mit der Ärmelkanalüberquerung des Franzosen Louis Blériot. Ihr folgte die zunehmende Popularisierung des Fliegens durch Zeitschriften sowie der erste motorbetriebene Flug 1909 in Russland selbst. Das Flugzeug wurde fortan zum Symbol der Aufholjagd mit dem Westen und der endgültigen Überwindung russischer Rückständigkeit (S. 73). Die schwache industrielle Basis des Zarenreichs ließ den Take-off der Luftfahrt allerdings zu einem unruhigen Start werden: Der Mangel an qualifiziertem Fachpersonal, Material und Organisation minderte die Schlagkraft der im Ersten Weltkrieg eingesetzten Flugzeuge deutlich.

Obwohl der Zusammenbruch des ökonomischen Systems nach dem Bürgerkrieg die materielle Basis des Flugzeugbaus vernichtet hatte, erbten die Bolschewiki von den alten Machthabern den Glauben an die Mobilisierungs- und Modernisierungsmöglichkeiten des Flugzeuges. Energisch vorangetrieben von Lev Trockij gründete sich 1923 die „Gesellschaft der Freunde der Luftflotte“, der Palmer in seinem Buch viel Raum zuweist. Sie teilte mit anderen Institutionen der NEP-Ära die ‚Pseudo-Freiwilligkeit‘ ihrer Mitgliederschaft, durch die sich die Bolschewiki ihrer Legitimität versicherten und Autorität beanspruchten.

Das Flugzeug entfaltete eine ungemeine Sogwirkung, die so manchen „Konvertiten für den sozialistischen Kreuzzug“ gewann (S. 123). Die Bolschewiki wollten durch eine Säkularreligion die althergebrachte Glaubenswelt überwinden und zelebrierten deshalb „Lufttaufen“, in denen sie Bauern den gott- und engelslosen Himmel zeigten. In einer ausführlichen Analyse von Plakaten und Postkarten zeigt Palmer weiter, dass die neuen Machthaber gezielt die Bild- und Symbolsprache des orthodoxen Glaubens einsetzten, um ihre Botschaften auf dem Land verständlich zu machen.

Als Stalin zur ‚Brachialindustrialisierung‘ der Sowjetunion aufrief, kam dem Flugzeugbau eine entscheidende Bedeutung zu: Neue Flugzeugwerften wurden gebaut, gezielt gingen Ingenieuren auf ‚Einkaufstour‘ in die USA, um den Technologierückstand aufzuholen. Die angebrochene heroische Moderne verlangte den Bau immer größerer Flugzeuge, die immer weiter und höher fliegen sollten. Pilotiert wurden sie von tollkühnen Helden wie Valerij Čkalov, der als Sohn eines Kesselmachers 1936 den damaligen Rekord für einen Langstreckenflug einstellte. Die Flieger stiegen zu ubiquitären Prototypen des „Neuen Menschen“ auf, die, fest verwurzelt im sozialistischen Kollektiv und angeleitet durch Stalin, Großtaten vollbrachten.

Im Spanischen Bürgerkrieg musste die sowjetische Aviatik dann den Preis dafür bezahlen, dass sich die Flugzeugbauer einseitig auf demonstrative Elemente wie Rekordflüge festgelegt hatten. Zum Kampf völlig untauglich, verloren sie das Duell mit dem faschistischen Gegner. Noch gravierender war die nahezu vollständige Zerstörung der sowjetischen Luftflotte in der Operation Barbarossa, noch bevor die Flugzeuge ihren ersten Einsatz geflogen hatten. Erst in den Jahren 1942/43 konnte, auch durch massive Hilfe der Alliierten, der Luftkampf in vollem Umfang wiederaufgenommen werden. In der Nachkriegsgesellschaft waren die Flieger dann einmal mehr Aushängeschilder des Sowjetstaates.

Das Buch bietet einen fundierten Überblick über die Geschichte der sowjetischen Aviatik. Es ist vor allem eine gelungene Synthese und Weiterführung älterer Studien. Gleichzeitig präsentiert es neue, auf Archivfunden basierende Erkenntnisse. Insgesamt bekommt der Leser den Eindruck einer spezifisch russischen air-mindedness, die in ihrer Zukunftsfixiertheit so manches Defizit der Gegenwart gern übersah.

Boris Belge, Tübingen

Zitierweise: Boris Belge über: Scott W. Palmer: Dictatorship of the Air. Aviation Culture and the Fate of Modern Russia. Cambridge, New York [usw.]: Cambridge University Press, 2006. XX. ISBN: 978-0-521-13043-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Belge_Palmer_Dictatorship_of_the_Air.html (Datum des Seitenbesuchs)

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