Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte. Hrsg. von Nikolaus Lobkowitz, Leonid Luks, Alexej Rybakov. 12. Jg., 2008, H. 1: Deutsche Russlandbilder im 20. und 21. Jahrhundert. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2008. 185 S. ISBN: 978-3-412-20155-5.

Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte. Hrsg. von Nikolaus Lobkowitz, Leonid Luks, Alexej Rybakov. 12. Jg., 2008, H. 2: Rus­sische Deutschlandbilder und deutsche Russ­landbilder. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2009. 195 S. ISBN: 978-3-412-20277-4.

West-östliche Spiegelungen begleiten die deutsch-russischen Beziehungen seit Jahrhunderten. Über sie ist mehr publiziert worden, als sich hier auch nur in Auswahl aufzählen ließe. Jüngst hat die Zeitschrift „Forum“ für ihren Jahr­gang 2008 die Beiträge einer Konferenz von 2007 an der Katholischen Universität Eichstätt, an der die Zeitschrift erscheint, in zwei Bänden zusammengefasst. Die wenigen zusätzlichen Artikel, die die Zeitschrift außerhalb der Großthematik bietet, werden hier nicht betrachtet. Die Konferenz mit dem Titel „Russische Deutschlandbilder und deutsche Russlandbilder im 20. und 21. Jahrhundert“ versammelte politik- und kulturgeschichtlich ausgerichtete Beiträge von Teilnehmern aus Deutschland und Russ­land, mit einem gewissen Schwerpunkt auf Vorträgen Eichstätter Historiker. Chronologisch schöpfen die Artikel den gesteckten Rahmen voll aus. Sie spannen einen Bogen von Rilkes Eindrücken seiner Russlandreise um die Jahrhundertwende bis zu aktuellen kaukasischen Russland- und Deutschlandbildern.

Der erste Band handelt in chronologischer Reihenfolge deutsche Russlandbilder im 20. Jahr­hundert ab. Er reicht von der Russophilie deutscher Schriftsteller um die Jahrhundertwende über die Reaktionen auf die Oktoberrevolution, die deutschen Emigranten und die Kriegsheimkehrer bis zur Berichterstattung über Gorbačev, El’cin und Putin, ergänzt durch Diskussionsbeiträge aus dem zweiten Heft über nationalsozialistische Russlandbilder. Alexei Ry­ba­kov schildert Rilkes Reiseeindrücke seiner Russlandbesuche von 1899 und 1900, in denen er – ähnlich wie Nietzsche – das östliche Imperium als kommende Macht betrachtete. Auch bei Thomas Mann funktionierte Russland als Projektionsfläche westlicher Sehnsüchte, die er in Werke wie „Tonio Kröger“ einbaute. Da die Wertungen in den gegenseitigen Wahrnehmungen meist mit den Konjunkturen der bilateralen Beziehungen korrelierten, ergab sich gegen Ende des Ersten Weltkriegs, insbesondere im Hinblick auf die Revolutionen von 1917, ein Wandel im deutschen Russlandbild, den John Andreas Fuchs anhand der „Norddeutschen Allgemeinen“ und hochrangiger deutscher Politiker und Militärs in ausführlichen Zitaten referiert.

Die Innensicht deutscher Emigranten in der Sowjetunion der Stalinzeit fokussiert Aleksandr Vatlin. Er beschreibt die Eindrücke der verschiedenen Emigranten-Gruppen: politische Flüchtlinge, Komintern-Funktionäre, Arbeiter und Fachleute. Dabei nimmt er vor allem ihre Vergleiche zwischen Erwartungen und vorgefundener Realität in den Blick, die je nach Migrationsmotivation naturgemäß unterschiedlich ausfielen. Bei den nationalsozialistischen Russlandbildern arbeiten Alexei Rybakov und Leonid Luks heraus, wie sie von verklärendem Naturmenschtum bis zu entmenschlichten „Bestien“, die es zu vernichten galt, reichten. Aufbauend speziell auf letzteren Stereotypen kann Andreas Hilger in seinem Beitrag zum Russlandbild deutscher Kriegsheimkehrer zeigen, dass deren Wahr­nehmungen, die vielfach in der nationalsozialistischen Überlegenheitspropaganda wurzelten, und der Anti-Kommunismus sich tendenziell gegenseitig verstärkten.

In einem zeitlichen Abstand zu den übrigen Beiträgen analysiert Wiebke Bachmann das Gorbačev-, El’cin- und Putinbild des „Spiegel“ und der FAZ. Während das positive Gorbačev-Bild insbesondere beim „Spiegel‟ selbst von der Černobyl’-Katastrophe kaum getrübt wurde, lässt sich bei der Darstellung El’cins ein rascher Wandel zur harschen Kritik feststellen. Die Wertung Putins war von Beginn an von Vorsicht statt Euphorie geprägt; darüber hinaus gab es eine gewisse Annäherung des Russlandbildes dieser beiden Printmedien.

Der zweite Band, der vornehmlich sowjetischen Deutschlandbildern gewidmet ist, konzentriert sich stärker als der erste auf die Stalin-Zeit. Leonid Luks zeichnet in seinem Beitrag über die sowjetische Sicht auf das nationalsozialistische Regime nach, wie sehr dessen Stärke unterschätzt wurde. Zudem unterstreicht er noch einmal, welche Wendung die Komintern bei ihrer Wertung der SPD durchlief, von der Verdammung im Rahmen der „Sozialfaschismustheorie“ bis zur Tolerierung als potentieller Partner der deutschen Kommunisten seit Mitte der dreißiger Jahre. Ein deutlich differenzierteres Deutschlandbild führt Jürgen Zarusky für den sowjetischen Schriftsteller und Frontberichterstatter mit jüdischen Wurzeln Vasilij Grossman vor. Dessen Berichte wurden zwar gerade wegen ihrer Differenziertheit und damit Glaubwürdigkeit zum Teil als wirkungsvolle Propagandamaterialien benutzt, andere seiner Texte, in denen sich sein Deutschland- und Deutschenbild spiegelt, wie sein Werk „Leben und Schicksal“ sowie das große Projekt des „Schwarzbuchs“, an dem Grossman beteiligt war, durften zu seinen Lebzeiten jedoch nicht erscheinen.

Einen zeitlich übergreifenden Beitrag liefert Boris Chavkin mit der Untersuchung der sowjetischen und russischen Historiographie zum deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Dieser fungierte in Ausnahmefällen als Ventil für zaghafte Kritik an totalitären Systemen insgesamt, das heißt implizit auch am stalinistischen. Meist jedoch wurde er während der Sowjetzeit für propagandistische Zwecke vereinnahmt, etwa mit der Legende von einem Stalin-Befehl zur Gründung des Nationalkomitees „Freies Deutschland“.

Die Themenreihe beschließt Zaur Gasimovs vergleichende Analyse zu georgischen, armenischen und azerbajdžanischen Russland- und Deutschlandbildern vorwiegend der Zeit seit 1989. Eine verzerrte Perspektive stellt Gasimov bei beiden Bildern fest, wobei sich hinsichtlich Deutschlands eine zunehmend positive, für Russ­land eine negative Tendenz bemerkbar mache.

Insgesamt bieten die beiden Themenhefte eine Vielfalt an Wahrnehmungen persönlicher und medialer Art. Die Bilder des anderen wurden häufig instrumentalisiert und folgten, wo sie offiziell oder offiziös waren, größtenteils politischen Entwicklungen. Viele Beiträge stützen sich auf bereits publizierte Vorarbeiten der Verfasserinnen und Verfasser, einige sind originär für die Tagung entstanden. Besonders eindrücklich werden die Bilder dort, wo sie auf eigener, quellengestützter Arbeit beruhen, wie es in den meisten Beiträgen der Fall ist. Dies ist ein großer Vorzug der Hefte. Die Bände setzten Akzente, die die Ära des Kalten Krieges, die Wahrnehmungen in der DDR und die über die punktuellen Eindrücke hinausgehenden Perzeptionen einer breiteren Öffentlichkeit weitgehend ausblenden. Sie konzentrieren sich dafür auf Russlandbilder, die durch eigenes Erleben geprägt waren. Dass angesichts der punktuellen Bearbeitung die Zusammenfassungen in den Einführungen eher summieren als analytisch verbinden, kann den Herausgebern nicht angelastet werden. Für einen systematischeren Überblick ist zunächst noch mehr Grundlagenarbeit auf der Ebene von Einzelforschungen zu leisten.

Ragna Boden, Bochum

Zitierweise: Ragna Boden über: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte. Hrsg. von Nikolaus Lobkowitz, Leonid Luks, Alexej Rybakov. 12. Jg., 2008, H. 1: Deutsche Russlandbilder im 20. und 21. Jahrhundert. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2008. ISBN: 978-3-412-20155-5. Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte. Hrsg. von Nikolaus Lobkowitz, Leonid Luks, Alexej Rybakov. 12. Jg., 2008, H. 2: Russische Deutschlandbilder und deutsche Rußlandbilder. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2009. 195 S. ISBN: 978-3-412-20277-4, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 274: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Boden_Forum_12_2008_1_2.html (Datum des Seitenbesuchs)