Erwin Oberländer, Volker Keller (Hrsg.) Kurland. Vom polnisch-litauischen Lehnsherzogtum zur russischen Provinz. Dokumente zur Ver­fassungsgeschichte 1561–1795. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.] 2008. 331 S., 1 Kte.

Die Edition ist ein weiteres Ergebnis der seit ca. zwei Jahrzehnte anhaltenden und von dem Stand­ort Mainz aus betriebenen Beschäftigung mit dem frühneuzeitlichen Herzogtum Kurland, aus dem bisher zwei Sammelbände, eine Dissertation und eine Reihe weiterer deutsch-, lettisch- und polnischsprachiger Beiträge hervorgegangen sind. (Erwin Oberländer, Ilgvars Mi­sāns [Hrsg.] Das Herzogtum Kurland. Verfassung, Wirtschaft, Gesellschaft. Bd. 1. Lüneburg 1993; Erwin Oberländer [Hrsg.] Das Herzogtum Kurland. Verfassung, Wirtschaft, Gesellschaft. Bd. 2. Lüneburg 2001 [dort bibliographischer Überblick über die Neuerscheinungen 1990–2000]; Volker Keller Herzog Friedrich von Kurland [1569–1642]. Verfassungs-, Nachfolge- und Neutralitätspolitik. Marburg/Lahn 2005 [= Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung, 11].) Diese Beschäftigung steht in einem internationalen Kontext von weiteren lettischen und polnischen Arbeiten, die ebenfalls der frühneuzeitlichen baltischen Ständegeschichte gewidmet sind. Die Herausgeber dieses Bandes verfolgen nach eigener Aussage das Ziel, das Herzogtum Kurland stärker in vergleichenden europaweiten stände- und verfassungspolitischen Forschungen zur Geltung zu bringen.

Auf eine editorische Vorbemerkung und eine Einleitung (S. 9–51) folgen 23 Dokumente. Auswahlkriterium war, wie die Herausgeber ausführen, diejenigen Texte zu berücksichtigen, die für die gesamte Verfassungsgeschichte des Herzogtums über fast 2½ Jahrhunderte grundlegend geblieben seien und die innen- wie außenpolitische Instrumentalisierung der ständig von allen Seiten beschworenen „Grundverfassung“ be­legen könnten. Am Anfang steht der Unterwerfungsvertrag (Pacta Subiectionis) zwischen liv­ländischen Ständen und polnisch-litauischem Herrscher (1561), den Schluss bildet das Manifest Katharinas II. an die neuen Untertanen aus dem Jahre 1795. Die Dokumente basieren in den meisten Fällen auf den im Latvijas Valsts Vēstures Arhīvs, dem Historischen Staatsarchiv Lettlands, aufbewahrten Originalausfertigungen oder zeitgenössischen Kopien (zu Abweichungen von dieser Regel noch unten). Die Texte, die bisher nur in frühneuzeitlichen Sammlungen mit meist willkürlichen Kürzungen verfügbar waren, werden in dem lateinischen oder deutschen Original geboten. Bei lateinischen Originalen wird zudem eine zeitgenössische oder eine für diese Ausgabe angefertigte deutsche Übersetzung geboten. Die neuen  Übersetzungen sind weitgehend zuverlässig. Bei dem Incorporationsedikt von 1569 (S. 94–97) sollte es im Deutschen jedoch durchweg „Großfürstentum Litauen“ heißen; das Edikt wurde weiterhin im 40. und nicht – wie fälschlicherweise übersetzt – im 14. Jahre nach der Königskrönung von Sigismund August erlassen.

Insgesamt ist die Auswahl für das späte 16. und 17. Jahrhundert geprägt von dem Kriterium der Bedeutung für die gesamte kurländische Ständeverfassung, weshalb etwa das Privilegium Sigismundi, das Privilegium Gotthardinum und die Formula Regiminis aufgenommen wurden. Für das 18. Jahrhundert orientiert sich die Auswahl an den Zäsuren der politischen Geschichte des Herzogtums, das nach dem Aussterben der Kettlerdynastie durch die von russischer Seite erzwungene Wahl Herzog Ernst Johann von Birons in das Kräftefeld russländischer Politik geriet. Entsprechend dem normativen und auf das gesamte Herzogtum Kurland abzielenden Charakter der Edition werden regionale Sonderentwicklungen, etwa die de-facto-Selbständigkeit des Stiftes (Kreises) Pilten, nicht berücksichtigt. Vorstellbar gewesen wäre es auch, die Piltenschen Ordnungen mit aufzunehmen und dadurch die regionale Vielfalt der Verfassungsentwicklungen stärker zu dokumentieren.

Die Texte werden durch den Nachweis der bisherigen Drucke eingeleitet und jeweils knapp kommentiert. Erschlossen werden die Dokumente durch ein (leider unvollständiges, da nicht alle Dokumente berücksichtigendes) Personen-, Orts- und Sachregister. Zu bedauern ist zudem, dass die entsprechenden litauischen und polnischen prosopographischen Nachschlagewerke – insbesondere Krzysztof Mikulski, And­rzej Rachuba (Hrsg.): Urzędnicy inflanccy XVI–XVIII wieku. Kórnik 1994; Henryk Lu­le­wicz, Andrzej Rachuba (Hrsg.): Urzędnicy centralni i dostojnicy Wielkiego Księstwa Li­tews­kiego XIV–XVIII wieku. Kórnik 1994; And­rzej Rachuba (Hrsg.): Urzędnicy Wielkiego Księst­wa Litewskiego. Bd. 1. Warszawa 2004 sowie die weiteren Bände dieser Reihe – nicht konsultiert wurden, so dass die siegelnden Personen und Zeugen nur unzureichend identifiziert werden.

Insgesamt versammelt die Edition bisher nur in unkritischen Sammlungen verfügbare Basistexte und liefert so eine kritische Textgrundlage für jede weitere Beschäftigung mit dem Herzogtum Kurland. Zu wünschen ist, dass die Edition in Zukunft dazu dient, die kurländischen Strukturen unter Berücksichtigung der est- und livländischen, schwedischen, litauischen und polnischen Ständepraxis stärker in eine vergleichende Betrachtung der nordosteuropäischen Ständeverfassungen einzuordnen.

Hans-Jürgen Bömelburg, Gießen

Zitierweise: Hans-Jürgen Bömelburg über: Erwin Oberländer, Volker Keller (Hrsg.): Kurland. Vom polnisch-litauischen Lehnsherzogtum zur russischen Provinz. Dokumente zur Verfassungsgeschichte 1561–1795. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.] 2008. ISBN: 978-3-506-76536-9, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 1, S. 109-110: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Boemelburg_Oberlaender_Kurland.html (Datum des Seitenbesuchs)