Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Band 58 (2010) H. 3, S. 443-444
Samerski (Hrsg.) Jesuitische Frömmigkeitskulturen. Konfessionelle Interaktion in Ostmitteleuropa 1570–1700. Franz Steiner Verlag Stuttgart 2006. 337 S., 35 Abb., 1 Kte. = Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 28. ISBN: 978-3-515-08932-6.
Die katholische Reform in Ostmitteleuropa gehört nicht zu den gut erforschten Bereichen der frühmodernen Religionsgeschichte. Zu stark wurde die Forschung von der Reformationsgeschichte geprägt, zu unübersichtlich sind die einzelnen nationalen Historiographien, in denen in der Regel die katholische Kirchengeschichte und insbesondere die Ordensgeschichte gut abgegrenzte und sorgsam eingehegte Parzellen darstellen, die kaum in Wechselwirkung mit der Politik- und Mentalitätsgeschichte stehen. Zur Geschichte der Jesuiten insbesondere in Polen-Litauen und etwas schwächer auch in der Krone Ungarn gibt es eine reiche Literatur, die jedoch zu einem erheblichen Teil von modernen Kirchenhistorikern verfasst wurde, die mehrheitlich der Societas Jesu angehören, weshalb die Forschung manchmal einen apologetischen Charakter besitzt.
Zugleich ist unbestritten, dass die katholische Reform und insbesondere das Wirken der Jesuiten die Großregion mental, bildungshistorisch, kulturell und politisch fundamental überformt haben – mit tiefgreifenden Folgen bis heute. Es handelt sich also für Ostmitteleuropa um ein großes kulturhistorisches Thema, das allerdings, insbesondere da es die Kombination zahlreicher, selten beherrschter Sprachen und Archivstudien erfordert, bisher kaum vergleichend angegangen wurde. Der vorliegende Band möchte mit dem Fokus auf „jesuitischen Frömmigkeitskulturen“ hierzu einen Beitrag leisten, kann diesen Anspruch jedoch – soviel sei vorweggenommen – nur in wenigen Bereichen einlösen.
Die sich aus dem Titel logisch ergebende Frage, ob es denn innerhalb der katholischen frühneuzeitlichen Frömmigkeit so etwas wie eine spezifisch jesuitische Frömmigkeitskultur überhaupt gegeben habe, wird von den Autoren programmatisch nicht beantwortet, sondern es wird auf zukünftige Studien verwiesen (S. 10). Dabei wäre es durchaus sinnvoll, sich diese Frage etwa anhand der Marienfrömmigkeit, der Immaculata-Devotion oder des Herz-Jesu-Kults zu stellen, was aber nicht geschieht. Problematisch wird dies in dem Moment, wo in einzelnen Beiträgen etwa Frömmigkeitspraxen der Jesuiten und der Benediktiner oder der Jesuiten und der Karmeliter nebeneinander gestellt werden und die Frage, ob es denn eine spezifisch jesuitische Frömmigkeit gegeben habe, eher verneint wird (vgl. auch bereits den Tagungsbericht „Frömmigkeitskulturen der Jesuiten in Ostmitteleuropa zwischen 1570 und 1700. 17.–18.01.2003‟, veröffentlicht 13.02.2003 in H-Soz-u-Kult:
(http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=174, 30.04.2010).
Anhand des Titels entsteht der Eindruck, der Band behandele die jesuitische Frömmigkeit in ganz Ostmitteleuropa. Tatsächlich sind vier Beiträge der Krone Ungarn, sieben Österreich und der Krone Böhmen sowie einer Polen-Litauen gewidmet. Dieses offensichtliche Missverhältnis, in dem die frühneuzeitlich größten und zahlenmäßig stärksten Jesuitenprovinzen Polen und Litauen nur randständig behandelt sind, wird nicht begründet oder thematisiert. Angesichts dieser Aufteilung wäre ein Untertitel „Konfessionelle Interaktion in der Habsburgermonarchie“ zutreffender gewesen.
Hinter dieser Anordnung steht in der Einleitung der Herausgeber – nicht in den einzelnen Beiträgen – ein ausschließlich westsprachiger Lektürehorizont und Referenzrahmen (S. 7–13). Ohne vertiefte Kenntnis der westslavischen, ungarischen und zum Teil auch ostslavischen Forschungsliteratur lassen sich aber aktuelle ostmitteleuropäische Diskussionen um frühneuzeitliche Frömmigkeitsformen nicht nachzeichnen, vielleicht ein Grund, warum stärker einordnende, über Einzelstudien hinausgehende Untersuchungen schwächer vertreten sind und der Fokus auf dem habsburgischen Machtbereich liegt.
Die insgesamt 13 Beiträge sind in drei, insgesamt allerdings kaum trennscharfe, Themenkreise (Innerkonfessionelle Interaktion: vertikal – Innerkonfessionelle Interaktion: horizontal – Interkonfessionelle Interaktion) aufgeteilt. Gábor Tüskés führt in einem sinnvoll disponierten und strukturierten Beitrag in die Jesuitenliteratur und Frömmigkeitspraxis in Ungarn im 16. und 17. Jahrhundert ein (S. 17–36) – leider fehlen analoge Beiträge zu den böhmischen Ländern und zu Polen-Litauen. Vertieft wird dies von Maria Crăciun in einer Analyse des frühen jesuitischen Intermezzos (1579–1588) im Siebenbürgen der Báthory-Zeit (S. 37–62). Allerdings fehlt gerade hier der vergleichende ostmitteleuropäische Blick, denn die Jesuiten kamen aus Polen nach Siebenbürgen und die dort entstehenden Konflikte etwa um lokale ungarische Festtage und die neue jesuitische Frömmigkeit wurzeln auch in dieser Internationalität des Ordenspersonals.
Die folgenden drei Beiträge behandeln Detailstudien aus dem Bereich der Krone Böhmen: Jens Baumgarten beschreibt die Bildpolitik in den Jesuitenkirchen von Glatz und Breslau (S. 63–92), Stefan Samerski die Übernahme und Instrumentalisierung der Olmützer Annenbruderschaft durch die Jesuiten (S. 93–118) und Michal Šronĕk die drei – von insgesamt 24 – von den Jesuiten errichteten Statuen auf der Prager Karlsbrücke (S. 119–140).
Weitere Fallstudien sind der Entwicklung der katholischen Frömmigkeit in Österreich und Böhmen gewidmet: Helga Penz beschreibt das Zusammenwirken der „alten Orden“ (Benediktiner, Zisterzienser, Augustiner-Chorherren, Prämonstratenser) mit den Jesuiten in Österreich (S. 143–162), Petr Maťa in einem materialreichen und gut strukturierten Beitrag das Wirken zweier katholischer „Charismatiker“, des Karmeliters Cyrillus a Matre Dei und Hieronymus Gladischs SJ in Böhmen (S. 177–206), Anna Ohlidal die Rolle der Jesuiten bei der Wiedereinführung der Wallfahrten nach St. Johann und Alt-Bunzlau (S. 207–224) und Martin Čičo die jesuitischen Initiativen zur Errichtung von Kalvarienbergen in der österreichischen Jesuitenprovinz (S. 225–255). Gemeinsamer Nenner dieser Beiträge ist vor allem, dass alle Autoren die Existenz einer spezifisch jesuitischen Frömmigkeitskultur stark in Frage stellen (S. 158–159, 202–203, 223, 251) und von einer starken Einbindung in die nachtridentinische katholische Frömmigkeit sprechen.
Zwei gut dokumentierte Beiträge sind der Geschichte der ungarischen Jesuiten gewidmet: Pál Ács analysiert das anti-apokalyptische Geschichtsbild in den Predigten von Péter Pázmány (S. 279–294) und István Fazekas beschreibt die Priesterausbildung am Wiener Pazmaneum (S. 163–176). Lilya Berezhnaya zeichnet die Fegefeuer-Konzepte der Predigten von zwei bedeutenden polnischen Jesuiten, Piotr Skarga und Tomasz Młodzianowski, nach und schildert Rückwirkungen bei orthodoxen Theologen (Ivan Vyšens’kyj, Dimitrij Rostovskij). Etwas vereinzelt steht am Schluss der Beitrag von Marcin Wisłocki dar, der Rezeptionen jesuitischer Muster bei pommerschen Theologen im 17. Jahrhundert analysiert, wobei die Grenze zwischen Inspirationen aus gemeinsamen kanonischen Autoren und bewusster – teilweise polemischer – Aufnahme manchmal verschwimmen (S. 295–321).
Insgesamt hinterlässt der Band, der durch ein – nicht immer fehlerfreies – Namens- und Ortsregister besser benutzbar wird, einen zwiespältigen Eindruck: Hervorgehoben werden müssen die wertvollen Artikel zur Geschichte der ungarischen Jesuiten, die in dieser Form bisher nur in ungarischsprachigen Beiträgen verfügbar waren, sowie die Studie von Maťa zu frommen Charismatikern. Ein strukturiertes Bild jesuitischer Frömmigkeit entsteht allerdings nach der Lektüre der teilweise zu kleinteiligen und ganze Großregionen und Themen ausblendenden Beiträge nicht.
Hans-Jürgen Bömelburg, Gießen
Zitierweise: Hans-Jürgen Bömelburg über: Anna Ohlidal, Stefan Samerski (Hrsg.) Jesuitische Frömmigkeitskulturen. Konfessionelle Interaktion in Ostmitteleuropa 1570–1700. Franz Steiner Verlag Stuttgart 2006. = Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 28. ISBN: 978-3-515-08932-6, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 443-444: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Boemelburg_Ohlidal_Jesuitische_Froemmigkeitskulturen.html (Datum des Seitenbesuchs)