Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Detlef Brandes

 

Freia Anders Strafjustiz im Sudetengau 1938–1945. München: Oldenbourg, 2008. XI, 551 S., Tab., 1 CD-ROM = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 112. ISBN: 978-3-486-58738-8.

Wie Freia Anders feststellt, mangelt es trotz zahlreicher Untersuchungen zum NS-Recht an „empirischen Studien zur Struktur und Spruchpraxis der Mittelbehörden“, also besonders der Oberlandesgerichte. Zudem erhebt sie „den Anspruch, die Befunde in den Rahmen der Geschichte der Annexions- und Volkstumspolitik einzufügen“. In ihrer ausführlichen Einführung zu Forschungsstand und Vorgehen (70 Seiten) entwickelt Anders die Besonderheiten des NS-Rechts. Im Zentrum befindet sich die Vorstellung der „Volksgemeinschaft“, die als Schicksalsgemeinschaft nur die „Artgleichen“ vereinigt und denen ein „objektiver Feind“ gegenübersteht, der nicht als schuldiges Individuum, sondern als „Schädling“ und „gemeinschaftsfremd“ gedacht und in Urteilen „im Namen des deutschen Volkes“ abgeurteilt wird. An der Spitze des Volkes und der „Bewegung“ steht der „Führer“ als Hand der Vorsehung und oberster Richter. Aus der Perspektive der Sudetendeutschen könne die „Su­de­ten­krise“ als latente charismatische Situation betrachtet werden, die durch den „Führer“ mit der Annexion der Sudetengebiete gelöst wurde. An die Stelle des tschechoslowakischen Rechts- und Verfassungsstaates trat nach Anders eine Strukturmischung aus traditioneller bzw. ordentlicher Justiz und charismatisch begründeten Sondergerichten, Anweisungen über die Reichskanzlei und direkten Eingriffen und Erlassen des Führers.

Im Kapitel „Besatzung“ zeichnet Anders die Grundzüge der Politik im Reichsgau Sudetenland vor allem auf der Grundlage der deutschen und tschechischen Sekundärliteratur nach. Die Einstellung der Bevölkerung gegenüber dem Regime untersucht sie nicht nur auf der Grundlage der Berichte des SD, sondern auch der Staatsanwaltschaften und der Regierungspräsidenten. Der trotz Unzufriedenheit über das Auftreten und die Positionsgewinne von Reichsdeutschen sowie die wirtschaftliche Not ungebrochenen „Akzeptanz“ der NS-Herrschaft durch die sudetendeutsche Mehrheit, ihrem Durchhaltewillen und Führerglauben stellt sie die fast geschlossene „Nicht-Akzeptanz“ und den Attentismus der tschechischen Minderheit gegenüber, die eine Basis für den Aufbau allerdings insgesamt schwacher Widerstandsgruppen boten.

Die Übernahme der reichsdeutschen Strafjustiz analysiert Anders im dritten Kapitel. Diese zielte besonders nach Kriegsbeginn auf die Verfolgung des „inneren Feindes“, die Prävention und die Begründung durch das „gesunde Volksempfinden“. Politische Strafsachen wurden Sondergerichten als Elementen der Einschüchterung und brutalen Bestrafung überwiesen. Besonders an diesen Gerichten wurden die Position des Staatsanwalts gestärkt und die des Angeklagten geschwächt. Die Rechtspflege wurde durch ein dichtes Netz von Richtlinien, informellen Maßnahmen, durch Richterbriefe und Besprechungen gesteuert. Die Justizpressestelle veröffentlichte Normen und Straffälle mit dem Ziel der Abschreckung und der Aufklärung über neue Straftatbestände, z.B. das Hören ausländischer Rundfunksender oder den verbotenen Umgang mit Kriegsgefangenen. Einerseits übte der Präsident des Oberlandesgerichts Herbert David Kritik an der Schwächung der Justiz durch Eingriffe von außen und berief sich auf Verfahren aus der Habsburgermonarchie als Vorbild. Andererseits nahm es jedoch die Justiz hin, wenn die Gestapo Personen ohne Gerichtsbeschluss in „Schutzhaft“ nahm oder exekutierte. Aus einer umfangreichen Personendatei erschließt Anders die Lebenswege der eingesetzten sudeten- und reichsdeutschen Justizjuristen.

In den nächsten beiden Kapiteln untersucht Anders den „Rechtsstab“ als den „für die soziologische Betrachtung zentralen Schnittpunkt von Bürokratie und Charisma“. Durch zahlreiche Gesetze und Verordnungen wurde die Staatsanwaltschaft gegenüber der Richterschaft gestärkt und zugleich an Weisungen gebunden und hierarchisch aufgebaut. Anders analysiert jeweils im Zeitverlauf den Anteil der einzelnen Delikte an der Geschäftstätigkeit der Gerichte, der nationalen Gruppen unter den Angeklagten sowie der Verweisungen an die ordentlichen bzw. Sondergerichte, an den Oberreichsanwalt bzw. relativ selten an außerjustizielle Stellen wie die Wehrmacht, die Landratsämter, SS-Gerichte und die Gestapo. Vor die Sondergerichte gelangten vor allem Verstöße gegen das „Heimtückegesetz“ (Kritik an Staat und Partei), „Kriegssonderstrafrecht“ (Zersetzung des Wehrwillens), die „Rundfunk-“ (Abhören ausländischer Sender), „Wehrkraftschutz-“ (verbotener Umgang mit Kriegsgefangenen), „Volksschädlings-“ (z.B. Diebstahl oder Sittlichkeitsdelikte) und Kriegswirtschaftsverordnung (z.B. Schwarzschlachtung und Schleichhandel), von denen Anders eine aussagekräftige Auswahl vorstellt. Die in den Heimtückeverfahren inkriminierten Äußerungen weisen auf ein weites Spektrum von Unzufriedenheit hin, geben aber eben doch kein repräsentatives Bild, selbst dann, wenn Anders mehrere Urteile als Belege nennt. Beim Geschlechtsverkehr mit Kriegsgefangenen nimmt Anders an, dass die harten Strafen dem „gesunden Volksempfinden“ entsprachen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Strafen im Vergleich zum Reich relativ „niedrig“ blieben, was sie auf „die politische Nischenexistenz des Gaus und das Festhalten am Althergebrachten“ zurückführt. Zudem urteilte das Sondergericht Troppau bis 1942 milder als die Sondergerichte in Leitmeritz und besonders Eger mit einer Reihe reichsdeutscher Richter. Unter den Angeklagten befanden sich überproportional mehr Männer als Frauen, mehr Arbeiter und Handwerker als Akademiker oder Angestellte, weitaus weniger Deutsche als Tschechen, die auch schärfer bestraft wurden.

Im fünften Kapitel geht es um die Richter, wobei Anders erneut die Ergebnisse der Arbeit von Volker Zimmermann bestätigt, dass die meisten Stellen an den ordentlichen, aber auch an den drei Sondergerichten durch Sudetendeutsche besetzt wurden. Sie untersucht die Zahl der Strafverfahren in der zeitlichen Entwicklung an den einzelnen ordentlichen und Sondergerichten nach Delikten und Strafen. Die Urteile analysiert Anders nach Tenor, Urteilsgründen und Strafzumessung und stellt einen unterschiedlichen Grad der Abweichung von der überkommenen Norm im Laufe der Zeit und bei den einzelnen Gerichten fest. Ebenso wie der Volksgerichtshof hielten die Gerichte im Sudetengau trotz Anweisungen zur Vereinfachung an der traditionell ausführlichen Begründung ihrer Urteile fest. Bei den Angaben zur Person spielte allerdings die Bewertung der politischen Haltung des Angeklagten eine große Rolle.

Anders stützt ihre Untersuchung auf normative Quellen sowie vor allem auf die Akten des Reichsjustizministeriums (Berlin), des OLG und der Generalstaatsanwaltschaft Leitmeritz, also der Mittelinstanzen des Sudetengaus, sowie die Akten der ihnen unterstellten Land- und Sondergerichte, von denen allerdings viele kurz vor Kriegsende vernichtet worden sind. Einen Teil von ihnen konnte Anders aus Haftakten sächsischer Zuchthäuser und Unterlagen des Reichsjustizministeriums rekonstruieren. Sie hat ihre Quellen statistisch mit SPSS und Excel nach Kriterien wie Deliktgruppen, Strafmaß, einzelnen Bevölkerungs- und Berufsgruppen ausgewertet und die Basiswerte in der beigelegten CD untergebracht. Die Studie zeichnet sich durch ihre Einordnung in die Geschichte des Rechts, durch den systematischen Rückbezug auf die Grundzüge charismatischer Herrschaft, die soziologische Untersuchung des Rechtsstabs und anschauliche Beispiele für die einzelnen Delikte aus. Freia Anders’ Studie ist ein in jeder Hinsicht überzeugender Beitrag zur Geschichte des Reichsgaus Sudetenland, vor allem aber des Strafrechts in einer Provinz des „Großdeutschen Reiches“.

Detlef Brandes, Berlin

Zitierweise: Detlef Brandes über: Freia Anders Strafjustiz im Sudetengau 1938–1945. R. Oldenbourg Verlag München 2008. XI = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 112. ISBN: 978-3-486-58738-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Brandes_Anders_Strafjustiz_im_Sudetengau.html (Datum des Seitenbesuchs)

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