Julia Mahnke-Devlin Britische Migration nach Russland im 19. Jahrhundert. Integration – Kultur – Alltagsleben. Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2005. 297 S., 17 Abb. = Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München. Rei­he: Geschichte, 69.

Mahnke-Devlin untersucht das Leben der Briten in Moskau und in St. Petersburg im 19. Jahrhundert. Einleitend gibt sie einen Überblick über die Beziehungen zwischen Großbritannien und Russland im 19. Jahrhundert und den Einfluss der Briten in der russischen Wirtschaft vom 16. bis 18. Jahrhundert. Sie stellt ein Wachstum der Gruppen mit englischer Muttersprache in St. Petersburg (von etwa 1000 auf 2410 Personen im Jahre 1897) und Moskau (von etwa 150 auf 914 Personen), ihre Konzentration auf das verarbeitende Gewerbe, auf freie Berufe, Banken und Handel und die besseren Wohnviertel fest, und zwar auf der Basis sowohl der städtischen und gesamtrussischen Volkszählungen als auch der Kirchenbücher der anglikanischen Gemeinden.

Die Briten waren im Gegensatz zur Mehrheit der Deutschen, die sich auf dem Lande ansiedelten, Einzelwanderer und kamen aus der Elite und der Mittelschicht. Sie wurden angeworben oder kamen auf eigene Initiative, vor allem um im industriellen Bereich tätig zu werden; sie wurden dank ihres Fachwissens gut bezahlt und genossen ihre privilegierte Stellung und die niedrigen Kosten der Lebenshaltung in Russland. Während die großen Unternehmer für Heiraten innerhalb ihrer Schicht sorgten, verbanden sich die übrigen oft mit lutherischen Deutschen und orthodoxen Russen, was sich auch auf ihre Sprachkenntnisse auswirkte. Viele Briten schickten ihre Söhne in Internate in England, suchten dort Heiratspartner und kehrten für ihren Lebensabend dorthin zurück. In größerem Umfang als die Deutschen, aber ähnlich wie die Schweizer behielten mehr als 80 Prozent der Briten die Staatszugehörigkeit ihres Herkunftslands bei, was ihnen nach der Revolution die Ausreise ermöglichte. Absonderung bzw. Assimilation von Briten demonstriert die Verfasserin am Beispiel zweier weit verzweigter Unternehmerfamilien. Beim Vergleich der britischen und deutschen Einwohner der beiden Hauptstädte stellt sie eine Reihe von Parallelen in der demographischen und beruflichen Struktur sowie in ihrem Heiratsverhalten fest. Als typisch galt, dass die Deutschen Gesangsvereine gründeten und die Briten in ihrer Freizeit Golf, Tennis und Kricket spielten, das Fußballspiel importierten, auf die Jagd oder angeln gingen und sonntags Picknick-Ausflüge machten.

Mahnke-Devlin zeigt, dass Briten als Fernhändler und Unternehmer reich wurden, verweist aber auch auf die wachsende Zahl von Angehörigen der Mittel- und auch der unteren Schicht sowie auf das Schicksal der Gouvernanten. Sie fragt nach dem Bild, das Russen wie z.B. Nikolaj Leskov von den Briten hatten, und nach den Eindrücken, die diese von ihrer russischen Umgebung, vor allem von den einfachen Bauern, dem Justizsystem und der orthodoxen Kirche gewannen. Zentren britischen Lebens waren die kirchlichen Gemeinden, die ebenso wie die deutschen für ihre Mitglieder auch Wohlfahrtseinrichtungen unterhielten. Allerdings unterstand die anglikanische Kirche der britischen Botschaft und nicht dem staatlichen „Departement für geistliche Angelegenheiten frem­der Konfessionen“ des Innenministeriums wie die übrigen protestantischen Kirchen. Besonders in der anglikanischen Gemeinde Moskaus stritten Engländer und Schotten, Anhänger der Hochkirche und dissenter jahrzehntelang um die Macht. In und von St. Petersburg aus versuchten die Kongregationalisten unter ihnen, die dort 1840 eine eigene Kirche bauten, ebenso wie die Quäker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren christlichen Glauben in Fürsorge für Gefangene, Gründung von Schulen und Verbreitung der Bibel zu verwirklichen, und zwar nicht nur zugunsten ihrer Landsleute als vielmehr für alle ethnischen Gruppen des Reiches. Zum Abschluss stellt Mahnke-Devlin in Kurzbiographien eine Reihe prominenter britischer Ärzte, Maler, Musiker und Architekten sowie Gouvernanten und einen bedeutenden Unternehmer vor.

Mit ihrem Buch hat Mahnke-Devlin ein plastisches Bild einer kleinen, aber einflussreichen Gruppe von Ausländern gezeichnet, die in der Forschung bisher im Schatten der zahlreichen Deutschen, aber auch der wenigen Schweizer stand. Sie analysiert das Leben und Wirken einzelner Personen und der verschiedenen Berufsgruppen sowie die Veränderungen innerhalb der englischsprachigen Minderheit im Laufe des 19. Jahrhunderts und ihre Beziehungen zu den übrigen ethnischen Gruppen beider Hauptstädte. Ihre Arbeit besticht durch die Vielzahl der benutzten Quellen sowohl in Russland als auch in England. Ihr klarer Stil, gut gewählte Zitate und differenzierte Urteile machen die Lektüre zu einem Vergnügen.

Detlef Brandes, Düsseldorf

Zitierweise: Detlef Brandes über: Julia Mahnke-Devlin Britische Migration nach Russland im 19. Jahrhundert. Integration – Kultur – Alltagsleben. Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2005. = Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München. Reihe: Geschichte, 69. ISBN: 3-447-05222-8, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 438-439: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Brandes_Mahnke_Devlin_Britische_Migration.html (Datum des Seitenbesuchs)