Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 443-444
Verfasst von: Robert Brier
Andrzej Chwalba: Kurze Geschichte der Dritten Republik Polen 1989 bis 2005. Aus dem Polnischen übersetzt von Andreas R. Hofmann. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 208 S., Graph. = Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts, 26. ISBN: 978-3-447-05925-1.
Der Originaltitel von Andrzej Chwalbas „Kurzer Geschichte der Dritten Republik Polen“ weist dieses Buch treffend als „Sonderbericht“ aus, da der Autor, wie er einleitend erläutert, mit seinem Werk keine wissenschaftliche Monographie vorlegen möchte, sondern einen historischen Essay, in dem Bilanz über fünfzehn Jahre polnischer Geschichte gezogen werden soll. Neben einer Skizze des historischen Übergangs von der Volks- zur sogenannten Dritten Republik liefert Chwalba in vier Kapiteln eine faktengesättigte Darstellung der Transformationen, die Polen in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft sowie schließlich in den Außenbeziehungen seit 1989 durchlaufen hat. Hinzu kommt eine knappe bilanzierende Zusammenfassung sowie ein Nachwort, in dem der Autor kurz auf die Ereignisse der Jahre 2005–2007 eingeht.
Die Bandbreite der von Chwalba behandelten Themen reicht von der Herausbildung der politischen Institutionen der Dritten Republik über die Entwicklung von Polens Infrastruktur bis zu Veränderungen von Familienstrukturen und Geschlechterrollen. Hier liegt auch ein Schwachpunkt dieses Buchs: Auch wenn der Autor sein Buch nicht als Beitrag zu einer wissenschaftlichen Debatte verstanden wissen möchte, hätte man sich doch einen etwas stärker analytischen Zugang gewünscht, der die dargebotene Materialfülle strukturiert und es dem Autor erlaubt, an der präsentierten Ereignisgeschichte und den skizzierten Strukturveränderungen breitere Entwicklungslinien herauszuarbeiten oder eine Forschungsthese zu entwickeln. Auch das knappe Nachwort, in dem Chwalba eine insgesamt positive Bilanz zieht, schafft hier keine Abhilfe, sondern wirft eher noch die Frage nach den vom Autor in Anschlag gebrachten Bewertungskriterien auf.
Andererseits besticht die Darstellung durch ihre Ausgewogenheit: Chwalba scheut klare Urteile nicht, beispielsweise wenn er die ökonomischen Interessen der ehemaligen Nomenklatur im Übergangsprozess zur Marktwirtschaft oder die Klientelpolitik des postkommunistischen SLD benennt. Dabei stellt er sich aber auf keine Seite des polarisierten politischen Diskurses in Polen, sondern zeigt vielmehr, dass der SLD und seine kurzlebigen Gegenspieler der Wahlaktion „Solidarność“ (AWS) „Geschöpfe derselben politischen Kultur und Tradition“ waren (S. 46).
Auch zieht Chwalba immer wieder internationale Vergleiche und zeigt so, dass manches, was auf den ersten Blick als spezifisch polnisches Problem erscheinen mag – wie das Fehlen von Volksparteien –, auch als nur nationaler Ausdruck eines internationalen Entwicklungstrends gesehen werden kann. Erfrischend ist schließlich, wie der Autor bestimmte Beobachtungen ins Positive zu wenden weiß: Die negative Meinung vieler Polen über ihre gesetzgebenden Institutionen etwa möchte Chwalba nicht als Ausdruck von Demokratieskepsis, sondern vielmehr eines staatsbürgerlichen Bewusstseins verstanden wissen, das ein berechtigtes Interesse an der Aufklärung von Unregelmäßigkeiten im legislativen Prozess hervorruft.
Auch polenkundige Leserinnen und Leser dürften in diesem Buch noch auf unbekannte Aspekte der postkommunistischen Wirklichkeit Polens stoßen. Hierzu gehört etwa das eindrucksvoll geschilderte Problem der drohenden Überalterung der polnischen Gesellschaft, das sowohl in den innenpolitischen Debatten als auch in der internationalen Wahrnehmung dieses im Vergleich noch recht jungen Landes eine eher untergeordnete Rolle einnimmt. Für alle anderen stellt diese populärwissenschaftliche Geschichte der Dritten Republik eine konzise und dennoch materialreiche, von Andreas R. Hofmann in ein gut lesbares und flüssiges Deutsch übertragene Einleitung in eineinhalb bewegte Jahrzehnte polnischer Zeitgeschichte dar.
Zitierweise: Robert Brier über: Andrzej Chwalba: Kurze Geschichte der Dritten Republik Polen 1989 bis 2005. Aus dem Polnischen übersetzt von Andreas R. Hofmann. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 208 S., Graph. = Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts, 26. ISBN: 978-3-447-05925-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Brier_Chwalba_Kurze_Geschichte_der_Dritten_Republik.html (Datum des Seitenbesuchs)
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