Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 3, S. 451-454

Verfasst von: Karsten Brüggemann

 

Imperium inter pares. Rol’ transferov v istorii Rossijskoj imperii (1700–1917). Sbornik statej [Imperium inter pares. Die Rolle von Transferprozessen in der Geschichte des Russländischen Imperiums (1700–1917). Aufsatzsammlung]. Pod red. M. Austa, R. Vul’pius i A. Millera. Moskva: Novoe Literaturnoe Obozrenie, 2010. 389 S. Abb. = Historica Rossica. ISBN: 978-5-86793-783-6.

Einer Publikationsreihe wie der Moskauer „Historia Rossica“, die sich durch den wissenschaftlichen Transfer in Form von Übersetzungen von Arbeiten nicht-russischer Autoren einen Namen gemacht hat, steht ein Sammelband zur Rolle von transkulturellen Aneignungs- und Austauschprozessen in der Geschichte des Russischen Reichs gut zu Gesicht. Freilich haben auch in diesem Sammelband nicht alle Beiträge tatsächlich etwas zum im Titel genannten Thema „Transfer“ zu sagen, was allerdings nicht unbedingt etwas über deren Qualität aussagen muss. Den Texten liegt eine Tagung am DHI Moskau (April 2009) zugrunde; keinem einzigen der hier publizierten Beträge kann man vorwerfen, noch Vortragscharakter zu tragen. Herausgeber und Autoren haben also dankenswerterweise sehr schnell und effektiv gearbeitet.

Es geht diesem Band um die Herausbildung und Weiterentwicklung einer imperialen Identität in Russland, wobei die Vorstellungen der russischen Elite über andere Imperien als produktiver Kontext genutzt werden sollen, um Transfers zu analysieren. Somit soll gezeigt werden, welche Defizite erkannt wurden, und wo man gedachte, Lösungen zu finden. Letztlich geht es implizit damit auch um Russlands Platz im Wettbewerb der Imperien, womit zugleich aber deutlich gemacht werden soll, wie sehr gerade die russische Elite im Prozess des internationalen Wissensaustauschs integriert war.

Die Frage indes, ob andere Staaten russische Rezepte zumindest als übernahmewürdig diskutiert haben, wird in diesem Band nicht explizit gestellt. Aber wäre nicht genau solch ein reziproker Prozess Voraussetzung dafür, tatsächlich von einem „Imperium inter pares“ sprechen zu können? Vladimir Bobrovnikov deutet in seinem instruktiven Vergleich zwischen dem französischen Algier und dem russischen Kaukasus (S. 182–209) leider nur an, dass in Fragen der Aufzeichnung und Adaption lokaler Verwaltungstraditionen Franzosen und Briten von den Russen „kopiert“ (S. 205) hätten. Konkrete Belege liefert er hierfür leider nicht und wertet augenfällige Parallelen in der Eroberungsphase wie auch bei späteren Versuchen, lokalen Traditionen zu begegnen, grundsätzlich als allgemeine Gemeinsamkeiten der kolonialen Erfahrung. Einzig in Martin Austs Text über Russland und das Vereinigte Königreich (S. 244–265) wird so etwas wie eine Reaktion der anderen Imperien auf russische Initiativen deutlich, doch ist sie eindeutig negativ: die maßlos übertriebene Furcht vor dem autokratischen Koloss und seinem angeblichen Bestreben, die britische Herrschaft über Indien herauszufordern. Als zumindest ernst genommener potentieller Gegner im Wettbewerb der Imperien, dem „Great Game“, war Russland wohl in der Tat inter pares.

Ricarda Vulpius [Rikarda Vul’pius] vermag keine Anzeichen für die Entwicklung eines imperialen Bewusstseins in der russischen Elite vor Peter I. zu erkennen. In ihrem überzeugenden Beitrag (S. 14–41) verdeutlicht sie, wie sich in Russland vor allem in Bezug auf das Inklusionsversprechen der Metropole für die Peripherie ein durchaus eigenständiges Verständnis vom Charakter der Herrschaft über „Andere“ herausgebildet hat. Den Faktor der angestrebten Integration der „Grenzländer“ (vulgo: Russifizierung) sieht sie als das am stärksten ausgeprägte Merkmal des „russländischen empire-building“ an, der sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auch im  spezifisch russischen Verständnis der eigenen Zivilisationsmission für die Völker an der südlichen und östlichen Peripherie niedergeschlug. Während Ricarda Vulpius das Vorhandensein eines Überlegenheitsgefühls, ausgedrückt in der Annahme, man vertrete eine „Zivilisation“, als hinreichendes Kriterium für die Anerkennung des Prädikats „imperial“ sieht, heißt dies noch lange nicht, dass die Zeitgenossen sich ebenfalls als Vertreter eines „Imperiums“ gesehen haben. Dass viele von ihnen es gerade nicht getan haben, sondern ihr Land eher als Großmacht oder schlicht als „riesiges Land“ begriffen (S. 374), betont Frithjof Benjamin Schenk [Frit’of Ben’jamin Šenk] in seinem anschaulichen Beitrag über den Eisenbahnbau (S. 354–380) – sein hübscher Obertitel „Inter-Rail“ ließ indes erwarten, etwas mehr über Reiseerfahrungen, gern auch transnational gedeutet, zu lesen. Geboten wird demgegenüber eine lesenswerte Darstellung der äußeren Einflüsse, die auf den Bau eingewirkt haben, aber auch der inneren Erwägungen, die zunächst die ökonomische Durchdringung, später die militärische Verteidigung und innere Kontrolle zum Gegenstand hatten. Benjamin Schenk kann zudem zeigen, dass sich die russische Regierung bei der Einführung und Erweiterung des Schienennetzes vor allem auch an den USA und Kanada orientierte. Innovationen für das transkontinentale Vielvölkerreich mussten ihren Ursprung nicht immer in den klassischen Überseeimperien haben.

Wie Ricarda Vulpius im Falle der kritischen Übernahme des Verständnisses von „Imperium“, stellt auch Aleksej Miller in seinem begriffsgeschichtlichen Aufsatz zur „Nation“ (S. 42–66) eine durchaus eigenständige Adaption dieses Terminus in Russland fest. Bis ins späte 18. Jahrhundert sei der Begriff indes nur im diplomatischen Schriftverkehr genutzt worden; erst danach gelangte er in die innenpolitische Sphäre, woraus er aber nach dem polnischen Aufstand von 1831 verdrängt und durch narodnost’ quasi „russifiziert“ wurde. Zugleich hielten im Interesse des imperialen Wettbewerbs und der Modernisierung des Reiches durchaus nationalistische Züge Einzug in die russische Innenpolitik. Dass für die Zeitgenossen, wie Miller schlussfolgert, die Begriffe „Nation“ und „Imperium“ keinen Widerspruch dargestellt hätten, ja das „Imperium“ mit Hilfe der „Nation“ begriffen und strukturiert worden sei, wird insbesondere auch dank der Interpretation der spezifisch russischen Form des „empire-building“ in Vulpius’ Artikel verständlich.

Dass die Nicht-Russen des Reiches dies anders sehen konnten, steht auf einem anderen Blatt. Dass aber die Petersburger Regierung in nicht-russischen Regionen durchaus gewisse Freiräume gewähren konnte, zeigt das Beispiel Bessarabiens, das von Andrei Cusco [Andrej Kuško] und Victor Taki [Viktor Taki] geschildert wird (S. 210–243). So wurden im nach 1878 aus dem Bestand Rumäniens wieder ans Russische Reich angegliederten Izmailovskij uezd im Süden Bessarabiens keinerlei größere administrative Angleichungen durchgeführt; ein Experiment, das zwar in Petersburg kritisiert worden, aber nie ernsthaft in Bedrängnis geraten sei. Zwar bleibt in ihrem Aufsatz trotz der Andeutung, die rumänische administrative Ordnung habe sich am französischen Beispiel orientiert, der Aspekt des Transfers undeutlich, doch wird wieder einmal klar, wie vielfältig auch am Ende des 19. Jahrhunderts Verwaltungseinheiten im Russischen Reich organisiert sein konnten. Ein Vergleich z.B. mit den Ostseeprovinzen nach 1905, wo sich die Gouverneure ebenfalls spürbar zurückzogen, und das Spiel der lokalen Kräfte gewähren ließen, böte sich hier an.

Wie es im Vorwort heißt, sind Grenzräume der bevorzugte Fokus transnational operierender Studien zum Kulturtransfer. Bessarabien stellt in dieser Hinsicht die Ausnahme in diesem Band dar, der sich explizit auf Transfers zwischen den Metropolen konzentriert. Allerdings weisen die Herausgeber darauf hin, dass Übernahmeprozesse aus der Rzeczpospolita, aus Schweden, den Niederlanden und dem Osmanischen Reich unberücksichtigt bleiben. Leider gilt dies auch für die zumindest im frühen 19. Jahrhundert wesentliche Rolle der Universität Dorpat und der Ostseeprovinzen insgesamt. Ironischerweise beschränkt sich der deutschbaltische Faktor auf den Seiten dieser Transfergeschichten auf die Figur des russischen Erznationalisten Aleksandr F. Rittich, mit dem die Ethnografie als Instrument zur Konsolidierung der Nation etabliert wurde, wie Vytautas Petronis in seinem Beitrag über die ethnografischen Karten des europäischen Russlands und deren Bezug zur Nationalitätenpolitik des Reichs darlegt (S. 308–329).

Vera Tolz [Vera Tol’c] behandelt einen Bereich, in dem russische Vertreter auf Augenhöhe mit ihren westeuropäischen Kollegen tätig waren und sich zuweilen auch für kundiger hielten – der Wissenschaft vom „Orient“, der russischen „Ostkunde“ (vostokovedenie, S. 266–307). Ihre Protagonisten auf russischer Seite deckten dabei ein breites Spektrum an Meinungen ab, bei der die Grundannahme der eigenen Überlegenheit nicht ausschließen musste, neben den britischen auch den russländischen Imperialismus für seinen Eurozentrismus zu geißeln. Zugleich hätte Vera Tolz z.B. der internationale Orientalistenkongress in St. Petersburg 1876 als Fallstudie konkreten Wissensaustausches dienen können (was auch für den ebenfalls in der russischen Hauptstadt abgehaltenen internationalen Eisenbahnkongress 1892 im Themenbereich Schenks gilt). Vera Tolz zeigt, dass in Bezug auf die östliche Peripherie zwei verschiedene Diskurse im Umlauf waren, welche deren nationale Qualität des Bodens mal als genuin „russisch“, mal als eher „fremd“ und damit kolonial markierten. Dies wird im Beitrag von Willard Sunderland [Villard Sanderlend] bestätigt (S. 105–149) – das asiatische Russland sei sowohl „russisch“ als auch „asiatisch“ definiert worden. Trotz der von Willard Sunderland deutlich herausgearbeiteten Unklarheit in vielen terminologischen Details verneint er in seiner Auseinandersetzung mit Anatolij Remnev (S. 150–181) die These vom „Sonderweg“ des russischen Kolonialismus. In der konkreten Frage, ob das Fehlen eines speziellen Kolonialministeriums etwas über Russlands Qualität als Imperium aussagt, schließt S. die Möglichkeit nicht aus, dass sich bei Ausbleiben des Ersten Weltkriegs ein solches spezielles Ministerium z.B. aus den diversen Instanzen, die sich mit der inneren Kolonisation beschäftigten, herausgebildet hätte. Remnev hingegen sieht die Andersartigkeit Russlands im Konzert der Imperialmächte eben darin begründet, dass ein eigenes Kolonialministerium den unbestrittenen innenpolitischen Zielen der Konsolidierung und Vereinheitlichung des Riesenreiches zuwidergelaufen wäre.

In einem weiteren anregenden Beitrag diskutiert Denis Sdvižkov die russische Rezeption des französischen Neoklassizismus „unter den Bedingungen des Konflikts“ mit Napoleon (S. 67–104). Er erklärt diese Adaption in Stilfragen damit, dass der auf loyalen „fremdstämmigen“ Eliten beruhende imperiale Patriotismus der vornationalen Zeit keine Gegenüberstellung mit irgendeinem „Other“ zur Legitimation gebraucht habe, da ihm ideologische Zuweisungen an Symbole fremd geblieben seien. Selbst in konfliktträchtigen Zeiten sei somit Transfer nur „natürlich“ gewesen. Der nationale Gedanke indes, der durch den Sieg über Frankreich in Russland an Boden gewann, führte zu einem Umdenken in Bezug auf die Visualisierung des Imperialen. In der nationalen Epoche seien anstelle des Raumes Sprache, Zeit und Geschichte zu wichtigsten Medien der Repräsentation geworden.

Die Rolle des Deutschen Reichs als Impulsgeber für eine russländische Ausländerpolitik diskutiert schließlich Eric Lohr [Ėrik Lor] anhand der Ausweisung von über 30.000 russischen Staatsbürgern, meist Polen und Juden, Mitte der 1880er Jahre (S. 330–353). Diese Aktion und die mit ihr verbundenen diplomatischen Komplikationen zu einer Zeit, in der früher bestehende Konventionen mit Preußen nicht mehr galten, führten zu einer Differenzierung der Ausländergesetzgebung in Russland, wo zwischen erwünschten (Investoren, Unternehmer) und unerwünschten Ausländern (nicht-russische Landbesitzer in den westlichen Gouvernements) unterschieden wurde. Auch vergleichbare Regelungen in Bezug auf Chinesen und Koreaner meint Eric Lohr auf die Abschiebepraxis Bismarcks zurückführen zu können, muss aber den schlüssigen Beweis einstweilen schuldig bleiben.

Wer sich mit der imperialen Geschichte des Russischen Reichs auseinandersetzt, wird in der Zukunft um diesen Band nicht herumkommen. Wie immer sind es die individuellen Fragestellungen der jeweiligen Autoren und weniger die Vorgaben bzw. Vorstellungen der Herausgeber, die den Inhalt prägen. Aber das lässt sich kaum vermeiden. Immerhin bemüht sich der nicht-russische Teil der Autorenschaft um einen kleinen formalen Transfer: Anstelle der Initialen werden Vor- und Vatersnamen der wichtigeren Akteure genannt und im Falle von Ausländern auch die lateinische Schreibweise ihrer Nachnamen. Ein Register sucht man indes vergebens.

Karsten Brüggemann, Tallinn

Zitierweise: Karsten Brüggemann über: Imperium inter pares. Rol’ transferov v istorii Rossijskoj imperii (1700–1917). Sbornik statej [Imperium inter pares. Die Rolle von Transferprozessen in der Geschichte des Russländischen Imperiums (1700–1917). Aufsatzsammlung]. Pod red. M. Austa, R. Vul’pius i A. Millera. Moskva: Novoe Literaturnoe Obozrenie, 2010. 389 S. Abb. = Historica Rossica. ISBN: 978-5-86793-783-6, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Brueggemann_Aust_Imperium_inter_pares.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2013 by Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg and Karsten Brüggemann. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.