Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Ausgabe: 59 (2011) H. 1
Verfasst von:Ulf Brunnbauer
Stefan Ihrig Wer sind die Moldawier. Rumänismus versus Moldowanismus in Historiographie und Schulbüchern in der Republik Moldova, 1991–2006. Mit einem Vorwort von Holm Sundhaussen. Stuttgart: ibidem-Verlag, 2008. 332 S., Abb. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 76. ISBN: 978-3-89821-466-7.
Hinsichtlich der Schulbücher für den Geschichtsunterricht konnte die seit 1991 unabhängige Republik Moldova bis vor wenigen Jahren mit einer Besonderheit aufwarten: Die Schulkinder waren mit Darstellungen der Geschichte des Landes konfrontiert, die sich gegen die staatliche Eigenständigkeit richteten und die Vereinigung mit dem Nachbarland Rumänien historisch zu begründen versuchten. Bis in das Jahr 2006 war nämlich die „rumänistische“ Antwort auf die Frage „Wer sind die Moldawier?“ in der Geschichtsschreibung hegemonial, d.h. die Ansicht, bei der Mehrheitsbevölkerung Moldovas würde es sich um ethnische Rumänen handeln, weshalb die Wiedervereinigung mit dem „Mutterland“ Rumänien Ziel der Politik sein sollte.
Die Darstellung und Analyse dieser Eigentümlichkeit hat sich der Historiker Stefan Ihrig vorgenommen, der zwischen 2003 und 2007 am Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig über die Geschichteschulbücher in Moldova forschte. Ziel seiner informativen Monographie ist die Entschlüsselung der historiographischen Antworten auf die im Titel formulierte Frage. Dabei konzentriert er sich auf emblematische wissenschaftliche Meistererzählungen sowie Schulbücher, die nach 1991 veröffentlicht worden sind. Wie Ihrig zeigt, stehen sich in Moldova zwei Optionen, wie die Nation geschrieben werden kann, unversöhnlich gegenüber, wobei dieser Konflikt nicht nur in Publikationen, sondern bisweilen auch auf der Straße ausgetragen worden ist: die „rumänistische“ Version einerseits, welche die Geschichte der „Moldawier“ als Teil der rumänischen Nationalgeschichte behandelt, und die „moldowanistische“ andererseits, welche die Moldawier als Nation mit einer eigenen, weit in die Vergangenheit zurückreichenden Tradition beschreibt und damit die Unabhängigkeit von Moldova und deren Fortbestand historisch begründet.
Eingerahmt wird die Darstellung des historiographischen Diskurses von einem Überblick über die turbulente Entwicklung Moldovas seit den späten 1980er Jahren (S. 29–64), der zeigt, dass die historischen Debatten eng mit politischen Kontroversen verbunden sind. Es folgt eine Diskussion der allgemeinen Zusammenhänge von Identität, Nation und Geschichtsschreibung (S. 65–88), wobei der Autor die große Bedeutung von Geschichteschulbüchern für die Ausbildung kollektiver Identitäten postuliert. Im Hauptteil der Arbeit rekonstruiert Ihrig die Geschichtsentwürfe der rumänistischen und moldowanistischen Narrative, wobei er sie anhand zentraler Kategorien analysiert, wie ihres Nationskonzepts, ihrer Vorstellungen von der Ethnogenese und den „Anderen“, der in ihnen propagierten „Charakteristika“ der Nation etc. Ihrig zeigt, dass die Natur der beiden Diskurse sehr ähnlich ist, da in beiden eine ethnische Definition der Nation zur Anwendung kommt und Vorstellungen der nationalen Kontinuität dominieren. Letztlich liegen die Unterschiede in den diametral entgegengesetzten Interpretationen derselben als wichtig angesehenen Ereignisse (wie der Eingliederung Bessarabiens in das Russische Reich 1812 oder der Vereinigung der Region mit Rumänien 1918). Neben den Darstellungsweisen der Geschichte der Mehrheitsbevölkerung widmet sich Ihrig auch den „Rändern“ der Nationalhistoriographie, wobei er insbesondere auf die Darstellung der Gagausen und Transnistriens sowohl in der Geschichtsschreibung der Mehrheit als auch in den jeweiligen Selbstentwürfen eingeht (S. 219–242).
Für das zentrale Paradoxon, warum die rumänistische Interpretation bis 2006 dominant bleiben konnte, obwohl seit 1994 kontinuierlich Regierungen an der Macht waren, die die Eigenstaatlichkeit verteidigten, bietet Ihrig eine überzeugende Erklärung: Der moldowanistischen Sichtweise habe es lange Zeit an Historikern gefehlt, da unter der intellektuellen Elite des Landes ein rumänisches Selbstverständnis hegemonial war; zudem konnte sich die moldowanistische Interpretation der Geschichte Moldovas bis heute nicht vom sowjetischen Odium befreien, wiederholt sie doch in großem Maße die Argumente der einstigen sowjetisch-moldawischen Geschichtsschreibung. Der Fall Moldova revidiert daher die gängige Meinung, dass Geschichtelehrbüchern die Strukturen der Herrschaft widerspiegeln – hier waren sie lange Zeit Ausdruck einer fundamentalen Opposition nicht bloß gegen die Regierung, sondern die Existenz des Staates!
Ihrigs Darstellung ist ein wichtiger Beitrag zum besseren Verständnis der vertrackten Situation Moldovas, aber auch zur Rolle von Geschichtsschreibung in Nationsbildungsprozessen. Es gibt zwar die eine oder andere Wiederholung, und manches Detail hätte auch ausgelassen werden können, aber insgesamt ist das Buch gut organisiert; die Argumente sind überzeugend belegt und der flüssige Stil erleichtert die Lektüre. Am Schluss führt Ihrig sogar einen neuen Begriff ein, der weitere Erörterungen verdient: den der „failed historiography“. Gleichzeitig weist er auf Tendenzen einer beginnenden Entpolitisierung der Geschichtsschreibung hin – und darauf, dass angesichts größerer Probleme die Bewohner des Landes die Debatten ihrer Historiker vielleicht ohnehin so ernst nicht nehmen.
Ulf Brunnbauer, Regensburg
Zitierweise: Ulf Brunnbauer über: Stefan Ihrig Wer sind die Moldawier. Rumänismus versus Moldowanismus in Historiographie und Schulbüchern in der Republik Moldova, 1991–2006. Mit einem Vorwort von Holm Sundhaussen. ibidem-Verlag Stuttgart 2008. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 76. ISBN: 978-3-89821-466-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Brunnbauer_Ihrig_Wer_sind_die_Moldawier.html (Datum des Seitenbesuchs)
© 2011 by Osteuropa-Institut Regensburg and Ulf Brunnbauer. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de