Sergei I. Zhuk Russia’s Lost Reformation: Peasants, Millennialism, and Radicals Sects in Southern Russia and Ukraine, 1830–1917. Woodrow Wilson Center Press, Washington, D.C. / The John Hopkins University Press Baltimore, London 2004. XX, 457 S.
In seiner minutiösen, auf ausgiebigen Archivstudien in Russland und in der Ukraine beruhenden Studie legt der Verfasser, Assistant Professor für Geschichte an der Ball State University (USA), ein breites Bild der dissidenten religiösen Bewegungen im Süden des russischen Imperiums in der Zeit zwischen 1830 und 1917 vor. Zhuk zeigt, dass der Raum Kiev – Char’kov – Rostov am Don – Krim – Bessarabien eine ausgesprochen heterogene, multiethnische und religiös rege Gegend war, in der die genuin russischen Sekten und die Siedler aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland, ihrerseits oft religiöse Dissidenten, einen großen Einfluss auf die Gesellschaft ausübten, oft neue nationale Identitäten entwickelten und mit ihrem religiösen Ethos der Modernisierung des Landes Impulse gaben. Völlig zu Unrecht wurden sie von der Forschung lange Zeit vernachlässigt. Ihre religiösen Hauptmotive waren die Konzentration auf die Bibel in der Volkssprache, die Wiederherstellung urchristlicher Lebensverhältnisse, Gottesdienstversammlungen mit Gebet, Gesang, Schriftlesung und -auslegung durch Laien, demokratische Gemeindestrukturen und Kritik an der orthodoxen Kirche, ihrem häufig ungebildeten, habgierigen und korrupten Klerus, an der Ikonenverehrung und der kirchenslavischen Liturgie sowie an den ungerechten Sozialstrukturen, die sich seit der Bauernbefreiung von 1861 für viele Menschen der unteren Schichten enttäuschend wenig verbessert hatten. Der Verfasser sieht sich immer wieder an die radikalen Strömungen der westlichen Reformation („radical reformation“) mit ihren staats- und kirchenkritischen Grundgedanken, ihren erwecklichen, pazifistischen und apokalyptischen Frömmigkeitsinhalten erinnert. Die Ethik der arbeitsamen Bauern, die aus religiöser Motivation heraus ein streng moralisches Leben führten, ihre Energien in Landwirtschaft und Handwerk einsetzten und oft rasch zu materiellem Wohlstand gelangten, ist für Zhuk ein Beweis für die Richtigkeit der Thesen Max Webers vom Einfluss der protestantischen Ethik auf die Entwicklung des Kapitalismus. Bemerkenswert sind außerdem die Gleichberechtigung der Frau und der Einsatz für die Bildung in diesen Bewegungen.
Nach der Darstellung Zhuks waren die „shalaputs“ die Pioniere einer russischen radikalen Reformation. Der Begriff „shalaput“ (auch šaloput, von russ. šal’noj, „verwirrt, irre“ und put’, „Weg“, also jemand, der sich aus offiziöser Sicht auf dem Irrweg befand), ist bei Zhuk eine Sammelbezeichnung für die einheimischen russischen Sekten (Duchoborzen, Molokanen, Chlysten, Skopzen, u.a., deren Ideen oft ineinander übergingen). Im 2. Hauptabschnitt der Untersuchung werden ihre Geschichte, ihre Spiritualität und ihr Wirken dargestellt. Der 3. Hauptabschnitt ist den Stundisten gewidmet. Im folgenden werden Theologie und Ethik der dissidenten Bewegungen analysiert. Die Ideen von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit, von moralischer Reinheit und Naherwartung führten manche religiöse Dissidenten zu einer neuen Lebenskultur, die sich bis in Alltag, Beruf und Kleidung äußerte. Es sind auch krankhafte und hysterische Phänomene bezeugt. Bezeichnend waren die Verbindungen zwischen religiösen Dissidenten und russischen und jüdischen Revolutionären, soweit sich beide Bewegungen gegen Zar, Regierung, Großgrundbesitz, Kirche und Klerus richteten.
Die Studie Zhuks bietet zahlreiche neue Erkenntnisse. Doch die Einflüsse der „radical reformation“ aus dem Westen erscheinen mir überschätzt, die Bedeutung der genuinen religiösen Kräfte und Traditionen innerhalb Russlands unterschätzt zu werden. Insbesondere gilt dies in Bezug auf die Ausführungen über den Stundismus. Hans-Christian Diedrich war demgegenüber Jahre zuvor in seiner Studie „Siedler, Sektierer, Stundisten. Die Entstehung des russischen Freikirchentums“, Berlin (Ost) 1985 (von Zhuk in der Bibliographie nicht erwähnt), zum Ergebnis gekommen, dass im Stundismus „bestimmte Traditionen des autochthonen Sektentums […] wieder aufgelebt waren und dass hier nicht vom Einfluss der russlanddeutschen Erweckungsbewegung geredet werden kann“ (S. 136); „das russische Freikirchentum in seiner stundistischen Gestalt [sei] in die Tradition des russischen Sektentums einzuordnen“ (S. 144). Das Zahlenmaterial, das Zhuk bringt, lässt auch nicht den Schluss zu, dass es sich bei diesen Bewegungen, so beeindruckend sie waren, um ein „mass movement“ gehandelt habe (S. 5), oder dass die „Mehrheit der Landbevölkerung im südlichen Russland“ sich ihnen angeschlossen habe (S. 398). Die kirchengeschichtliche Erfahrung lehrt, dass religiöse Radikalismen keine Massenbewegungen erzeugen, es sei denn, im Laufe der Entwicklung erlahme ihr anfänglicher Enthusiasmus und sie änderten sich entscheidend. Trotz dieser Einwände muss betont werden: Zhuk hat das Verdienst, viel unbekanntes Material aufgearbeitet zu haben und ein weit differenzierteres Gesamtbild von den dissidenten religiösen Bewegungen im Süden des russischen Imperiums zu vermitteln, als wir es bis jetzt hatten.
Erich Bryner, Schaffhausen
Zitierweise: Erich Bryner über: Sergei I. Zhuk: Russia’s Lost Reformation: Peasants, Millennialism, and Radicals Sects in Southern Russia and Ukraine, 1830–1917. Woodrow Wilson Center Press, Washington, D.C. / The John Hopkins University Press Baltimore, London 2004. ISBN: 0-8018-7915-9, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 432-434: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Bryner_Zhuk_Lost_Reformation.html (Datum des Seitenbesuchs)