Simon Geissbühler Babuschka Anna. Das Leben einer ukrainischen Bäuerin im 20. Jahrhundert. LIT Verlag Münster, Berlin, Hamburg [usw.] 2007. 137 S., 23 Abb., Kte. = Osteuropa, 1.
Liebe als Buchthema verwundert keinen, Liebe als Grund für die Entstehung eines wissenschaftlichen Buches, dazu eines außerordentlich lesenswerten und gelungenen Werkes, lässt aufhorchen. Simon Geissbühlers Biographie seiner (Schwieger-)Babuschka (Großmutter) Anna beginnt mit der Liebe zu seiner jetzigen Frau, durch die er mehr über deren Land, die Ukraine und insbesondere über das Leben ihrer Großmutter erfährt. Ich spüre in dem Buch aber auch die Liebe zur Geschichte, zum Menschlichen und die Liebe zur Freiheit.
Dem Autor gelingt es, „die Geschichte eines einfachen Lebens“ (S. 3) anrührend und persönlich zu erzählen und dabei gekonnt und absolut wissenschaftlich lauter mit den Kernereignissen und -entwicklungen in der Ukraine im 20. Jahrhundert zu verweben. An sich bekannte, aber doch abstrakte Begriffe wie „Hungersnot“ oder „obdachlose Kinder“ werden erschreckend konkret, wenn Anna mit Tränen in den Augen erzählt, wie ihr kleiner Bruder 1933 in ihren Armen verhungert und stirbt, wie sie selbst Zucker, der eigentlich zur Ungeziefervernichtung aufs Feld ausgegossen wurde, aus dem Dreck saugt, oder wie ihre Mutter die beiden jüngeren Geschwister am nächsten größeren Bahnhof aussetzen will.
Lenins Losung „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“ klingt wie Hohn, wenn man erfährt, dass in Annas Dorf erst 1970 elektrisches Licht eingeführt wurde, Maisblätter als Toilettenpapier dienten und das Trinkwasser vom Dorfbrunnen geholt werden musste.
Annas Lebenswelt ist das Dorf; die große Politik verstand und interessierte sie nicht. Einzig der Hunger und der Krieg drangen in das abgeschiedene, von Fortschritt und Moderne weitgehend unberührte Örtchen im Südwesten der Ukraine. Als Anna 1980 ihre erste kümmerliche Rente bekommt, ist das ein Ereignis für sie; dass 1986 das Kernkraftwerk Tschernobyl explodiert, 1991 die Ukraine unabhängig wird oder 2004 die Orange Revolution stattfindet, geht quasi unbemerkt an ihr vorbei. Und welche Bedeutung hat eine Inflation, selbst wenn sie unvorstellbare 10000 % beträgt, für jemanden, der kaum je Bargeld und schon gleich gar nie ein Bankkonto besaß?
Geissbühler gibt Einblick in beide Welten, kommentiert offen und klar, steht zur Subjektivität von Annas Leben und seines bescheidenen Versuches, es zu rekonstruieren, und thematisiert ehrlich weiße Flecken in der Biographie.
Für alle, die mehr über die Ukraine im 20. Jahrhundert wissen wollen, liefert der Autor eine ansprechende Literaturübersicht, ein ausführliches Literaturverzeichnis und ein Glossar, und er erklärt auch im Detail, wie er die Geschichte(n) von Anna erzählt bekommen hat. Ein Buch mit Nachttischqualitäten, ohne banal zu sein, von einem, der etwas zu sagen hat und dies ohne jegliche Arroganz und Wissenschaftlerallüren auch tut.
Jana Bürgers, Dobrá Voda u Českých Budějovic
Zitierweise: Jana Bürgers über: Simon Geissbühler Babuschka Anna. Das Leben einer ukrainischen Bäuerin im 20. Jahrhundert. LIT Verlag Münster, Berlin, Hamburg [usw.] 2007. = Osteuropa, 1. ISBN: 978-3-8258-0381-0, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Buergers_Geissbuehler_Babuschka.html (Datum des Seitenbesuchs)