Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), 1, S. 144-146

Verfasst von: Jana Bürgers

 

Dittmar Schorkowitz: Postkommunismus und verordneter Nationalismus. Gedächtnis, Gewalt und Geschichtspolitik im nördlichen Schwarzmeergebiet. Unter Mitarbeit von Vasile Dumbrava und Stefan Wiese. Frankfurt/Main [usw.]: Peter Lang, 2008. 445 S., zahlr. Abb., Tab., Graph. Gesellschaften und Staaten im Epochenwandel, 15. ISBN: 978-3-631-57610-6.

Ein hehres Ziel hat sich Dittmar Schorkowitz gesetzt, wenn er mit diesem Buch einenkonzeptionellen Beitrag zur Frage der politischen Stabilität von Regionen im östlichen Europa leisten(S. 20) möchte. Diese Form der Politikberatung soll gar der Konflikprävention dienen, indem durch Aufklärung der Mechanismen der Konflikt­entstehung diese bereits im Ansatz verhindert werden.

Die politisch Verantwortlichen möchte ich jedoch sehen, die sich durch über 400 eng bedruckte und höchst inhaltsreiche Seiten ackern! Schade eigentlich, denn sie könnten eine Menge lernen. Die sonst oft nur im akademischen Elfenbeinturm isoliert behandelten Themen wie Vergangenheit, Identität und Nation werden hier gekonnt nachgezeichnet und zusammengefasst und vor allem so geschickt mit der Gewaltproblematik verknüpft, dass Auseinandersetzungen, die der westliche Zeitungsleser normalerweise kopfschüttelnd als kaukasisches Chaos abtut, plötzlich verständlich(er) werden. Die Hauptfrage könnte zusammenfassend so gestellt werden: Führt Geschichtspolitik zu sog.ethnischer Gewalt? Und die Antwortthese lautet: Klassische Konflikte politischer, wirtschaftlicher und sozialer Art werden umgedeutet und mit religiösen, historischen und ethnischen Argumenten quasi bemäntelt. Statt von ethnischer Gewalt einem Begriff, dem jeglicher theoretischer Hintergrund fehlt wäre es folglich besser, von ethnisch interpretierter Gewalt zu sprechen. Geschichte wird so schnell zur Geschichtspolitik, ihre Akteure und Institutionen werden zu „geschichtsschreibenden Unternehmertum(S. 42), womit dann auch diepolitische Brisanz eines instrumentalisierten Geschichtsbewusstseins(S. 31) deutlich wird.

Drei Beispielregionen hat sich der Autor zur Detailanalyse vorgenommen, die er alle unternördliches Schwarzmeergebietsubsummiert. Geographisch mag das richtig sein, doch die Seiten, auf denen er historisch und wirtschaftlich-politisch aktuell zu erklären versucht, was diese Region zusammenhält, überzeugen nicht wirklich. Gerade angesichts des großen Interesses an Gas und Öl bzw. an deren Durchleitung nach Europa entlang oder durch das Schwarze Meer ist die Aufmerksamkeit, die der Region von vielen Interessengruppen geschenkt wird, aber natürlich verständlich.

Zum einen geht es um das Krasnodarer Gebiet, eine eigenständige Verwaltungseinheit der Russländischen Föderation mit staatlichen Außengrenzen zur Ukraine und zu Georgien, genauer zu Abchasien, dazu noch mit der Republik Adygeja samt ihren vielen Subethnien als Enklave innerhalb des eigenen Territoriums. Durch Migration, Flüchtlinge und Gastarbeiter gibt es eine ethnisch und konfessionell stark heterogene Bevölkerung mit extrem unterschiedlichen Bedürfnissen und Zielen. Dazu kommen noch die Neu-Kosaken, deren unterschiedliche Strömungen mal durch paramilitärische Einsätze als politische Brandstifter, mal alsHüter der russländischen Erdeauftreten (S. 101).

Die zweite Region ist Abchasien, wo es durch sich gegenseitig hochschaukelnde Nationalismen und absichtliche Gewaltanwendung schließlich zum georgisch-abchasischen Krieg kam, der die Probleme nicht entschieden hat, sondern in einenfrozen conflictmündete.

Bei der dritten Region handelt es sich um die international nicht anerkannte Transnistrische Moldauische Republik mit ihren gerade einmal rund 660.000 Bewohnern. Angst vor der Desowjetisierung und Rumänisierung führte zur Bildung dieses zwischen der Republik Moldau und der Ukraine gelegenen Pseudo-Staates mit sprachlich und kulturell starker Anlehnung an Russland.

Doch bevor sich Schorkowitz die Details vornimmt, schildert er klar und übersichtlich auf rund zehn SeitenWorum es geht, um sich dann in einem ersten großen Teil derBegriffe und Bedeutungenanzunehmen, also Dingen wie Geschichtspolitik, Erinnerung, Identität, dem großen Komplex von Nation und Nationalismus sowie Konflikt, Gewalt und zuletzt dem Schwarzmeerraum. Den zweiten großen Block bildet die Faktengeschichte der drei Beispielregionen, bereits unter Einbeziehung von damit verbundenen Mythen, während sich der dritte Abschnitt den Teilen der Geschichte widmet, die erinnert werden. Im vierten Kapitel versucht der AutorEinblicke in den Eskalationsmechanismus(S. 230) zu gewinnen, um dann im letzten, etwas schwach und kurz geratenen Abschnitt zu fragen:Was tun?. Ergänzt wird der Band durch einen ausführlichen Anhang, der nicht nur aus einer außerordentlich umfassenden Literaturliste besteht, sondern vor allem auch aus der Synopsis von 15 Tiefeninterviews, die in der Tat, wie der Autor selbst sagt, eineseltene Quelle zum Selbstverständnis einer postkommunistischen Regionalelite an der Peripherie Südrusslandsdarstellen. Schade, dass sie samt dazugehörigem Fragenkatalog nur im Anhang gelandet sind. Dafür hätten die in eher schlechten Reproduktionen abgedruckten russischsprachigen Dokumente (Verordnungen, Briefe, Beschlüsse etc.) getrost fehlen dürfen, und auch den englischsprachigen Bericht über den von Schorkowitz geleitetenRoundtable on Freedom of Religion and Belief (OSCE-ODIHR)hätte es nicht unbedingt gebraucht. Sie blähen das ohnehin schon umfangreiche Buch noch weiter auf. In diesem Zusammenhang ließe sich auch fragen, warum der Autor Transnistrien mitbehandelt, anstatt sich auf den Nordwestkaukasus zu beschränken. Einige Gemeinsamkeiten gibt es zwar, aber, wie bereits erwähnt, funktioniert die Schwarzmeerregion nicht wirklich als die Klammer, als die Schorkowitz sie darstellt. Die Lage im Kaukasus ist schon verzwickt genug und hält ausreichend Stoff zur Untermauerung von SchorkowitzThese bereit.

Durch seine genaue Analyse hinterfragt er die für Konflikteskalationen vorschnell genutzten Erklärungsmuster „ethnische Gewalt“ und „Nationalismus“ und kann zeigen, was eigentlich alles hinter den Begriffen steckt. Er nimmt alle Beteiligten in den Blick, die Designer, Vermittler und Rezipienten von Erinnerungskultur mitsamt den eingesetzten Mitteln der Verbreitung, als da wären die Medien, Denkmäler, Schulbücher, die Sprachenpolitik. Besonders aufschlussreich ist die Frage danach, wem das Vorgehen nutzt und ob es gar eine „absichtsvolle Verordnung von Nationalismus“ (S. 230) durch die Trägerschichten gibt. Schorkowitz erkennt eine von den Schwierigkeiten der Transformation überforderte Elite, der es zudem am nötigen Reformwillen fehlt. Die selbstverschuldeten Missstände werden mittels einer bewussten Instrumentalisierung von Geschichtsbewusstsein und Nationalismus kaschiert und tragen somit zur Sicherung des status quo bei. Wir hätten es also mit einer Elite zu tun, die identitätsbildende Vergangenheitskonstruktionen zur eigenen Besitzstandswahrung nutzt und eigentlich politische Gewalt durch ethnisch interpretierte verbrämt. Noch komplexer wird die Lage, wenn man die tatsächlich starken historischen Pfadabhängigkeiten mit ihren verschiedenen Elementen mit einbezieht: Es sind „Nationalitätenpolitik, die Hierarchie der Verwaltungsebenen und die Dotationsabhängigkeit, das Kolchossystem und die Umverteilungsgemeinde, die Größe imperialer Vergangenheit und die Last kolonialen Erbes, die Versorgungsmentalität und ein nach wie vor ubiquitärer Egalitarismus sowie eine Neigung zu radikalen Lösungen“ (S. 257/58). Der Vorteil dieser akteurszentrierten Sicht ist gegenüber einer mehr räumlich orientierten, dass „Veränderungen in friedenschaffender Hinsicht“ (S. 263) möglich erscheinen.

Und damit schließt sich der Kreis zur am Beginn des Buches geäußerten Absicht. So die Ausführungen aufmerksame Leser finden, was dem Werk zu wünschen ist, sind sicherlich genug Grundlagen zum besseren Verständnis der Konflikte und entsprechende Lösungswege gegeben.

Jana Bürgers, Offenburg

Zitierweise: Jana Bürgers über: Dittmar Schorkowitz: Postkommunismus und verordneter Nationalismus. Gedächtnis, Gewalt und Geschichtspolitik im nördlichen Schwarzmeergebiet. Unter Mitarbeit von Vasile Dumbrava und Stefan Wiese. Frankfurt/Main [usw.]: Peter Lang, 2008. 445 S., zahlr. Abb., Tab., Graph. = Gesellschaften und Staaten im Epochenwandel, 15. ISBN: 978-3-631-57610-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Buergers_Schorkowitz_Postkommunismus_und_verordneter_Nationalismus.html (Datum des Seitenbesuchs)

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