D. Ju. Arapov, I. L. Babič, V. O. Bobrovnikov [u.a.] Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj im­pe­rii [Der Nordkaukasus als Teil des Russländischen Reiches]. Izdat. Novoe Literaturnoe Obo­zre­nie Moskva 2007. 460 S., 4 Ktn., 12 Tab., s/w-Abb. = Historia Rossica – Okrainy Rossijs­koj imperii.

Die Autoren – eine Gruppe namhafter Kaukasusspezialisten um den Islamwissenschaftler V. O. Bobrovnikov und die Ethnologin I. L. Babič – betonen, mit diesem Lehrbuch keine Mode im Schlepptau der jüngsten Tschetschenienkriege bedienen zu wollen. Ihr ehrgeiziges Ziel ist es vielmehr, die im doppelten Sinne konfliktbeladene Geschichte der Eingliederung Nordkaukasiens in das Zarenreich „von alten Kolonialstereotypen und neuen Lügen zu befreien“. Anders als bei traditionellen Darstellungen soll der Fokus dabei weder auf der Zentralsicht einer imperialen Meistererzählung noch auf der Froschperspektive kaukasischer Ethnien oder heutiger Gebietseinheiten liegen, sondern die Wechselwirkung zwischen Reich und Grenzsaum spiegeln. Tatsächlich ist das Buch in mehr­facher Hinsicht innovativ. Dies betrifft so­wohl das methodische Vorgehen als auch die Wahl der behandelten Einzelthemen und vor al­lem die Art der Darstellung.

Die Auftaktkapitel beinhalten eine kritische Übersicht zur Geschichte der russländischen Kaukasusforschung sowie eine Analyse der Be­deutung Nordkaukasiens innerhalb der zarischen Außenpolitik des 18. Jahrhunderts. Hierbei wird vor allem der internationale Hintergrund der „Ori­entalischen Frage“ beleuchtet und der zur Beschreibung der Region zentrale Begriff des „Grenzsaums“ (pogranič’e bzw. frontir [sic]) ein­geführt und diskutiert. Weitere Kapitel befassen sich mit den sozialen Grundlagen der kaukasischen Bergvölker einschließlich des lokalen Ko­sakentums und mit den Religionen Christentum und Islam, welche – nicht zuletzt dank der Missionstätigkeit des Zarenreichs – bald zum dis­tinktiven Merkmal und zum Kristallisationskern von Identität wurden. Dem folgt eine Darstel­lung des Großen Kaukasischen Krieges von 1817 bis 1859 und des hartnäckigen Widerstands der Bergvölker, welcher in der Entstehung eines islamisch-theokratischen Staatsgebildes gipfelte. Neben Vorschlägen zur Periodisierung des Geschehens und einem Abriss der Ereignisgeschichte stellen die Autoren jene drei historiographischen Traditionslinien vor, welche das Narrativ der bisherigen Forschung geprägt haben.

Die bemerkenswertesten Passagen des Buches bilden die Kapitel zu den kleineren Aufstän­den der Nordkaukasier bis 1877, deren Mas­sen­emigration und zur Einwanderung russischer Ko­lonisten ab 1860 sowie zur „Reform- und Ge­genreform-Ära“ unter den Zaren Aleksandr II. und Aleksandr III. Jene Themen sind bis heu­te relativ unzureichend erforscht, denn ihre Be­wer­tung war aus ideologischen Gründen in­ner- und außerhalb Russlands lange äußerst um­stritten und zum Teil tabuisiert. Gelungen sind auch die Abschnitte zur Bauernbefreiung und über die wirtschaftliche Entwicklung in der Re­gi­on von 1850 bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts. Einzig die Kapitel über Kultur und Religion in derselben Epoche fallen m.E. etwas ab: Das erste bietet, etwa bei der Bildungspolitik, bei der Ent­wicklung des Pressewesens und ähn­lichem gegenüber sowjetzeitlichen Darstellun­gen kaum Neues; im zweiten wird das Weiter­leben der traditionellen muslimischen Gelehrsamkeit und ihre Auseinandersetzung mit der Viel­falt zeitgenössischer Modernisierungsbestre­bungen innerhalb des Islams (den von der Krim ausstrahlenden Dschadidismus einmal ausgenommen) leider nicht untersucht. Den aktuellsten Forschungsstand vermitteln nochmals das Kapitel zur Revolution von 1905 und deren Folgen für die Region sowie jenes zum „Orientalismus in Nordkaukasien“.

Innerhalb der „Beilagen“ hätte vielleicht auf drei vom Haupttext unabhängige Essays zu Detailfragen verzichtet werden können. Äußerst praktisch sind hingegen die Listen zarischer Befehlshaber und Verwaltungschefs in Kaukasien, statistische Materialien und Karten sowie das mustergültige Glossar, das Register und ein nach Einzelkapiteln untergliedertes Quellen- und Literaturverzeichnis.

Ein großes Plus des Buches gegenüber älteren Synthesen ist gewiss seine differenzierte und ideologiefreie Darstellungsweise. Bei strittigen Sujets werden konkurrierende Deutungsmuster kurz vorgestellt, der eigene Standpunkt knapp und sachlich begründet. Dem Leser steht es somit frei, sich für ein alternatives Erklärungsmodell zu entscheiden. Ganz nebenbei werden ihm zudem Grundlagen und Begrifflichkeit moderner Forschungsmethoden wie z.B. der Kulturwissenschaften oder der Komparatistik vermittelt. Ein wenig geht dies allerdings auf Kosten des Faktenreichtums, der gut gemachte Überblickswerke der Sowjetzeit oft auszeichnet, wie die in diesem Punkt unerreichte, von A. L. Naročnickij herausgegebene, 1988 in Moskau erschienene Vorgängerpublikation „Istorija na­ro­dov Severnogo Kavkaza (konec XVIII v. – 1917)“.

Insgesamt gelingt es den Autoren jedoch vortrefflich, die mosaikhafte Vielfalt Nordkaukasiens anschaulich zu machen. Auch dem von der Gesamtreihe vorgegebenen Anspruch, die historische Entwicklung des russländischen Kaiserreiches nicht zuletzt von seinen Rändern her zu begreifen, werden sie vollauf gerecht. Das Buch setzt Maßstäbe und kann als verbindliches Standardwerk zu seinem Thema gelten.

Clemens P. Sidorko, Schopfheim

Zitierweise: Clemens Sidorko über: D. Ju. Arapov, I. L. Babič, V. O. Bobrovnikov [u.a.] Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj imperii [Der Nordkaukasus im Bestand des Russländischen Reiches]. Izdat. Novoe Literaturnoe Obozrenie Moskva 2007. 460 S., 4 Ktn., 12 Tab., s/w-Abb. = Historia Rossica – Okrainy Rossijskoj imperii. ISBN: 978-5-86793-529-0, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Clemens-Sidorko-Arapov-Babic-Bobrovnikov-Severnyj-Kavkaz.html (Datum des Seitenbesuchs)