Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 294-295

Verfasst von: Buergisser Collmer

 

Thomas Bürgisser: „Unerwünschte Gäste“: Russische Soldaten in der Schweiz 1915–1920. Zürich: Pano, 2010. 238 S., zahlr. Abb. = Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas, 19. ISBN: 978-3-290-22003-7.

Zwischen 1915 und 1920 flohen schätzungsweise 3000 russische Militärangehörige in die neutrale Schweiz. Zunächst handelte es sich um Kriegsgefangene, die aus deutschen oder österreichischen Lagern und Arbeitskommandos entkommen waren. Die Schweizer Bevölkerung begegnete diesen Leuten mit einem gewissen Wohlwollen und leistete nicht selten Fluchthilfe. In der Eidgenossenschaft konnten die russischen Militärflüchtlinge entweder mit behördlicher Hilfe Quartier und Arbeit suchen (was freilich einer Desertion gleichkam), oder sie konnten den Ermahnungen der zarischen Gesandtschaft in Bern nachgeben und sich repatriieren lassen. Die große Mehrheit der Soldaten entschied sich für den zweiten Weg. Wer allerdings von einer baldigen Rückkehr in die Heimat geträumt hatte, sah sich meist schon in Frankreich getäuscht, wo die Repatrianten erneut in militärische Formationen eingegliedert wurden.

Das Revolutionsjahr 1917 veränderte die Lage der russischen Soldaten grundlegend. In der Regel aus unterprivilegierten Schichten stammend, waren sie für die Vision eines gerechteren Russland empfänglich und sympathisierten häufig mit den Ideen der Bolschewiki. Dies gilt besonders für die noch aktiven Kampfverbände, etwa das in Frankreich stationierte russische Expeditionskorps. Als dessen Mitglieder nach einer Meuterei in französische Arbeitskompanien gesteckt wurden, flohen 1918 Hunderte von ihnen in die Schweiz. Hier löste der massenhafte Zustrom von revolutionär gestimmten Soldaten Unbehagen aus. Die anfängliche Solidarität der Schweizerinnen und Schweizer wurde zunehmend von Argwohn und Revolutionsangst überlagert, oft auch von Verachtung gegenüber mutmaßlichen Deserteuren und Drückebergern.

Die vorliegende Monografie ist aus einer Basler Lizentiatsarbeit hervorgegangen. Sie orientiert sich an dem für Basel typischen lebensweltlichen Ansatz, der den Menschen als historischen Akteur ins Zentrum stellt und Fragen der Identität und der Wahrnehmung mit strukturellen Entwicklungen zu verknüpfen versucht. Im Fall der russischen Militärflüchtlinge liegen leider nur spärliche Selbstzeugnisse vor; trotzdem gelingt es dem Autor, sein vornehmlich auf Schweizer Behördenakten und Presseartikeln beruhendes Narrativ geschickt mit Informationen zu Einzelschicksalen und zum Alltag der Soldaten zu durchsetzen. Dabei wird die Verflechtung von Mensch und System immer wieder greifbar – etwa wenn dem Leser die Erschießung eines hilflos im Rhein schwimmenden flüchtigen Russen durch einen deutschen Grenzwächter vor Augen geführt und mit dem lapidaren Aufruf schweizerischer Militärbehörden kontrastiert wird, „alle Regungen des Mitleids gegenüber Hülflosen“ hätten im Sinne „striktester Neutralität“ in den Hintergrund zu treten (S. 2629).

Thematische Schwerpunkte des Buches bilden unter anderem die Lebens- und Arbeitsbedingungen jener Flüchtlinge, die seit Anfang 1918 von den Schweizer Behörden gegen Bezahlung eines Minimallohns zu „Arbeiten im öffentlichen Interesse“ (besonders im Rahmen von Meliorationsprojekten) herangezogen wurden; ferner werden die politisch aufgeladenen Aktivitäten konkurrierender russischer Rot-Kreuz-Organisationen, die sich in der Schweiz um die Militärflüchtlinge kümmerten, thematisiert. Nach der Oktoberrevolution standen sich namentlich das antibolschewistische „Bureau de Secours aux prisonniers de guerre, Section Russe“ unter der Direktion von Nikolaj A. Kassianov und die von Sergej J. Bagockij geleitete sowjetische „Commission de la Croix-Rouge Russe en Suisse“ gegenüber. Ein eigenes Kapitel ist schließlich den „Montana-Russen“ gewidmet – einer Gruppe von 300 tuberkulosekranken russischen Kriegsgefangenen aus Deutschland, denen auf Druck der Alliierten ab Juni 1919 ein Kuraufenthalt in Montana im Kanton Wallis ermöglicht wurde. Karitatives Engagement verband sich hier mit der politischen Hoffnung, die ehemaligen Soldaten längerfristig als antibolschewistische Kräfte im russischen Bürgerkrieg einsetzen zu können.

Stets bleibt die Absicht des Autors spürbar, „subjektive historische Realitäten zu rekonstruieren“ (S. 19). Die Studie ist denn auch dort am stärksten, wo sie mikrohistorisch (und von fotografischen Abbildungen begleitet) das tägliche Leben der russischen Soldaten thematisiert und in verschiedene Kontexte stellt. Gelegentlich scheinen auktoriale Empathie und Intuition die Aussagekraft der Quellen etwas zu strapazieren, doch das programmatische Sich-Hineindenken in die historischen Subjekte wird auch immer wieder durch anregende Analysen durchbrochen, etwa wenn der Autor die soziokulturelle Verankerung der Soldaten im russischen Bauerntum oder die Bedeutung des zerfallenden Staates für das Selbstverständnis der Flüchtlinge erörtert. Insgesamt bietet das Buch einen sorgfältig recherchierten, lebendig geschriebenen Überblick; es erschließt einen Aspekt der schweizerisch-russischen Beziehungen, der auch für die russische Militär- und Revolutionsgeschichte von Interesse ist.

Peter Collmer, Zürich

Zitierweise: Buergisser Collmer über: Thomas Bürgisser „Unerwünschte Gäste“: Russische Soldaten in der Schweiz 1915–1920. Zürich: Pano, 2010. = Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas, 19. ISBN: 978-3-290-22003-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Collmer_Buergisser_Unerwuensche_Gaeste.html (Datum des Seitenbesuchs)

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