Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 1, S. 146-147

Verfasst von: Wolfgang Curilla

 

Stefan Karner / Philipp Lesiak / Heinrihs Strods (Hrsg.): Österreichische Juden in Lettland. Flucht – Asyl – Internierung. Innsbruck [etc.]: Studienverlag, 2010, 286 S., Abb., Tab. = Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Institutes für Kriegsfolgen-For­schung, 16. ISBN: 978-3-7065-4871-7.

Aus Österreich wurden 4.207 Juden nach Riga deportiert. Davon überlebten nur etwa 100 bis 200. Dazu gehört auch Gertrude Schneider, eine der profiliertesten Autorinnen über den Holocaust in Lettland. Der Sammelband behandelt aber nicht diese bei weitem größte Opfergruppe österreichischer Juden in Lettland, sondern beschränkt sich auf die aus Österreich nach Lettland geflohenen Juden. Mit diesem im Titel angegebenen Thema befassen sich nur zwei der Beiträge, und ein weiterer teilweise, während die übrigen sechs Aufsätze den historischen Kontext herstellen und allgemein die Judenverfolgung erörtern, ohne näher auf österreichische Juden in Lettland einzugehen.

Andrea Strutz zitiert in ihrem Beitrag „Aspekte der NS-Verfolgung und der Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus Österreich 1938 bis 1941“ Berichte Überlebender. Mindestens 130.000 von über 200.000 Personen, die in Österreich als Juden galten, flohen bzw. wurden vertrieben, etwa 65.500 fielen der Shoah zum Opfer. Nur rund 5.500 überlebten in Österreich selbst. Strutz erörtert die Hauptfluchtziele Großbritannien, USA, Palästina sowie Shanghai und gibt 400 nach Lettland geflohene österreichische Juden an.

Philipp Lesiak und Evita Rukke kommen in „Die Flucht österreichischer Juden nach Lettland 1938 bis 1941. Die ‚Konjunktur‘ der Vertreibung“ auf Grund von Akten zu einer Mindestzahl von 312 nach Lettland geflohenen österreichischen Juden. Die Autoren weisen nach, dass mit der Aufnahme der Tätigkeit durch die „Zentralstelle für die jüdische Auswanderung Wien“ unter Adolf Eichmann die Zahl der in Lettland registrierten Flüchtlinge in die Höhe schnellte.

Im Mittelpunkt des Bandes steht Philipp Lesiaks Aufsatz „Dem Holocaust entronnen? Erinnerungen österreichischer Juden an die Flucht nach Lettland und ihr weiteres Schicksal“, der auf den Aussagen von sechs Zeitzeugen sowie auf Memoiren, Akten und Dokumenten beruht. In Lettland wurden die Flüchtlinge in die jüdische Gemeinde in Riga integriert, was vor allem deren Leiter Mordechajs Dubins zu verdanken war. Er intervenierte mehrfach zu Gunsten der Einreise von Juden. In allen Fällen war das erklärte Ziel der Flüchtlinge, in ein Drittland weiter zu emigrieren. Etwa der Hälfte gelang dies. Mit dem Einmarsch der Roten Armee in Lettland 1940 endete die Flucht deutscher Juden dorthin. Dubins wurde nach Sibirien deportiert. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion ermordeten Deutsche oder ihre Hilfskräfte mindestens 27 der geflohenen österreichischen Juden. Die übrigen zwischen 150 und 180 waren zusammen mit Letten und einheimischen Juden von den Sowjets ab Ende Juni 1941 in Massendeportationen nach Sibirien transportiert worden. Erst 1947 kehrten die 136 Überlebenden nach Österreich zurück.

Heinrihs Strods betont in seinem Beitrag „Die Flucht von Juden nach Lettland 1938 bis 1940“, dass das Land mit etwa 3.000 Menschen eine überproportionale Zahl jüdischer Flüchtlinge aufnahm. Ritvars Jansons legt die Repressionen sowjetischer Sicherheitsdienste gegen Sicherheitsdienste gegen gesellschaftlich und politisch engagierte Juden in Lettland im Rahmen der auch gegen Letten gerichteten Maßnahmen dar. Margers Vestermanis, selbst ein Überlebender des Holocaust, beschreibt die nationalsozialistischen Konzentrationslager für Juden in Lettland, vor allem Riga-Kaiserwald. Valters Nollendorfs zeichnet „Das große Schweigen und Verschweigen: Der Holocaust im (Unter-) Bewusstsein der Exilletten im Westen“ nach. Aleksandrs Ivanovs stellt die lettische Historiografie des Holocaust in Lettland dar. Die sehr abgewogene Beurteilung zeigt u.a. die Kritik am Standardwerk von Andrievs Ezergailis auf.

Aivars Stranga beschreibt ausführlich den Holocaust im Baltikum. Aus der Schilderung der ersten Massaker in Kaunas könnte der Eindruck entstehen, als hätten litauische Kräfte überall erst nach dem Eintreffen der Deutschen mit der Ermordung von Juden begonnen. Es gab jedoch auch vorher schon schon antijüdische Ausschreitungen und Tötungen von Juden durch Litauer (siehe Wolfgang Curilla: Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrußland 1941-1944. Paderborn 2006, S. 133). Nicht ganz so eindeutig ist, ob es auch in Lettland noch vor dem Eintreffen der Deutschen solche spontanen Mordaktionen gab (so Curilla: Ordnungspolizei, S. 909, Klaus-Michael Mallmann (u.a.): Die „Ereignismeldungen UdSSR“ 1941. Darmstadt 2011, S. 79 Anm.6, dagegen Katrin Reichelt Lettland unter deutscher Besatzung 19411944. Berlin 2011, S. 83, 91). Hierauf geht Stranga nicht ein. Er stützt sich für Lettland fast ausschließlich auf lettische Autoren, vor allem auf Ezergailis, und erwähnt z.B. die grundlegende Arbeit von Angrick/Klein: Die „Endlösung“ in Riga, nicht.

Eine sorgfältigere Durchsicht der Texte, insbesondere desjenigen von Strods, wäre wünschenswert gewesen. In zwei Aufsätzen fehlt jeweils einmal das Wort „nicht“, so dass sinnentstellende Fehler auftreten; einige Daten und die Überschrift einer Tabelle sind unzutreffend, und die Verweisung auf ein Diagramm geht ins Leere. Insgesamt handelt es sich trotz der Kritik an Einzelpunkten um ein lesenswertes Buch, zumal die meisten dieser lettischen Historiker, außer Vestermanis, kaum in westlichen Sprachen zu lesen sind.

Wolfgang Curilla, Hamburg

Zitierweise: Wolfgang Curilla über: Stefan Karner / Philipp Lesiak / Heinrihs Strods (Hrsg.): Österreichische Juden in Lettland. Flucht – Asyl – Internierung. Innsbruck [etc.]: Studienverlag, 2010, 286 S., Abb., Tab. = Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Institutes für Kriegsfolgen-For­schung, 16. ISBN: 978-3-7065-4871-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Curilla_Oesterrreichische_Juden.html (Datum des Seitenbesuchs)

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