Pavlo Khiminets Protestantismus in der Ukraine. Rolle und Stellung  des Protestantismus im soziokulturellen Kontext der Geschichte der Ukraine. Peter Lang, Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt a.M. [usw.] 2006. 268 S. = Friedensauer Schriftenreihe. Reihe A: Theologie, 8. ISBN: 978-3-631-55791-4.

Die adventistische Theologische Hochschule in Friedensau (Sachsen-Anhalt) hat in ihre theologische Schriftenreihe erstmalig eine Publikation zur osteuropäischen Kirchengeschichte aufgenom­men. Die Arbeit des Verfassers, eines freikirchlichen Pastors aus der Ukraine, wurde 2006 von der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Sie wendet sich der aktuellen Frage zu, wie nämlich Regionen, die nun zu selbständigen Staaten geworden sind, durch raumübergreifende geistesgeschichtliche Bewegungen – in diesem Fall die Reformation im 16. Jahrhundert – geprägt wurden. Der Verfasser versucht, die „unverrückbare Position“ (S. 13) des Protestantismus in der Geschichte seines nunmehr unabhängigen Heimatlandes nachzuweisen, und er betont das „tiefe Eindringen protestantischer Ideen in das geistliche Leben der Ukraine“ (S. 115). Zugleich spricht er von der „Anpassung“ des Protestantismus „an die orthodoxe und […] die katholische Kultur“ (S. 24). Im auf die Einleitung folgenden zweiten Kapitel („Die Besonderheiten der ukrainischen Reforma­tion“; S. 29–71) reklamiert er in einem historischen Überblick vom 14. bis ins 20. Jahrhundert auch die frühen Häresien und Häretiker, die wir aus dem Moskauer Russland und dem heutigen Weißrussland kennen, als Träger der ukrainischen „Vorreformationsideen“ (S. 42–52). Im anschließenden dritten Kapitel (S. 73–115) wird der Einfluss des Protestantismus als eines sozial-kulturellen (d.h. nicht vorrangig religiösen) Faktors in der Ukraine bis ins 20. Jahrhundert hinein verfolgt, wobei der Verfasser eine Fülle von Material aus der Geistesgeschichte seines Heimatlandes anführt. Allerdings muss er zugestehen, dass manche religiösen Phänomene wie die freikirchlichen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts in den größeren Rahmen gesamt­russischer Kirchengeschichte eingepasst werden müssen. Der Verfasser vertritt dabei einen großukrainischen Standpunkt: Er bezieht in seine Darstellung Gebiete ein, die nie zur Ukraine ge­hört haben (S. 81). Im vierten Kapitel (S. 117–171) nennt er unter den „Trägern der Früh- und Spätreformation“ Persönlichkeiten wie Kirill Lukaris (kein Ukrainer, sondern Grieche, der später Patriarch in Konstantinopel war), Petro Mohyla / Petr Mogila (Metropolit in Kiew und Erneuerer der ost­slawischen Orthodoxie), sowie Simon Todorskij aus dem im heutigen Weißrussland gelegenen Polock (orthodoxer Hierarch im Russländischen Reich). Ein letzter Abschnitt (S. 173–194) behandelt das 20. Jahrhundert. Instruktiv sind hier die Informationen zu neuesten Entwicklungen und Problemen. Die Zusammenfassung (S. 195–202) eröffnet neue Aufgabenstellungen. Beeindruckend sind die großen Zusammenhänge, die der Verfasser auftut, und das enzyklopädische Wissen über die Kultur- und Geistesgeschichte seines Heimat­landes, das er vor dem Leser ausbreitet. Viel­fältig und detailliert führt er in das Denken ukrainischer Gelehrter und Kirchenführer ein.

Im einzelnen werden Ergebnisse seiner Studien zu hinterfragen sein, etwa ob reformatorische Einflussnahme das ukrainische Geistesleben so umfassend wie von ihm postuliert bestimmt hat oder ob wir nicht viel mehr die Bedeutung der allgemeinen Tradition des Humanis­mus und der Frühaufklärung, die von Mitteleuropa aus auf die Rzeczpospolita übergegriffen und hier unabhängiges Denken inspiriert hatte, würdigen müssen. Doch hat der Verfasser teil an den Bemühungen zeitgenössischer osteuropäischer Denker, in der Reformation des 16. Jahr­hunderts einen wesentlichen Beitrag zur Na­tionswerdung ihres eigenen Volkes zu sehen, wie es z.B. auch der Minsker freikirchliche Pastor Stanislaŭ Akin’čyc in seinem 2001 in Chabarovsk erschienenen Buch „Zalaty vek Belarusi“ [Das goldene Zeitalter Weißrusslands] getan hat.

Schließlich seien noch einige Hinweise erlaubt: Beachtenswert ist der Dokumentenanhang (S. 203–237). Nötig wäre ein Register gewesen, in dem die verschiedenen Sprachfassungen der Personen- und Ortsnamen zum Vergleich nebeneinander stünden. Fehler im Literaturverzeichnis hätte man ausmerzen können, so dass ein und derselbe Autor nicht unter verschiedenen, sondern nur unter einem Namen zu finden ist. Für den gesamten Text ist eine einheitliche, nämlich die wissenschaftliche Transliteration zu verwenden. Misslich für den Leser ist, dass in den Fußnoten lediglich Autor und Er­scheinungsjahr der verwendeten Publikation angegeben werden, was zu endlosem Blättern im Literaturverzeichnis zwingt. Zeugnisse der kreativen Kraft der deutschen Sprache sind Wortschöpfungen des Verfassers wie beispielsweise „Schlachtaer“ (=Schlachtschitz [szlachcic]?; S. 63), „Hieräer“ (=Priester [ierej]?; S. 65), „Pospoltaer“ (=Bewohner der Rzeczpospolita [???]?; S. 65), „Malopoler“ (=Kleinpole [malopolanin]?; S. 76).

Hans-Christian Diedrich †, Berlin

Zitierweise: Hans-Christian Diedrich über: Pavlo Khiminets: Protestantismus in der Ukraine. Rolle und Stellung des Protestantismus im soziokulturellen Kontext der Geschichte der Ukraine. Peter Lang, Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt a.M. [usw.] 2006. = Friedensauer Schriftenreihe. Reihe A: Theologie, 8. ISBN: 978-3-631-55791-4, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 4, S. 599-600: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Diedrich_Khiminets_Protestantismus_in_der_Ukraine.html (Datum des Seitenbesuchs)