Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Karl Eimermacher

 

Maxim Waldstein The Soviet Empire of Signs. A History of the Tartu School of Semiotics. VDM Verlag Dr. Müller Saarbrücken 2008. XII, 219 S., Tab. ISBN: 978-3-639-05605-1.

Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um die Dissertation, die Maxim Waldstein. 2005 an der University of Illinois (Urbana) vorgelegt hat. Sie stellt den Versuch dar, die Geschichte der russischen Nachkriegssemiotik in Tartu – zunächst initiiert durch Vorlesungen von Ju. M. Lotman zur Poetik, dann seit 1964 über viele Jahre vorangetrieben durch Sommerschulen (Konferenzen) in Kääriku (bei Tartu) zu sekundären modellierenden Zeichensystemen sowie durch die Veröffentlichungsserie „Trudy po znakovym sistemam“ (Arbeiten zu Zeichensystemen) – unter wissenschaftsgeschichtlichen und soziologischen Gesichtspunkten zu rekonstruieren. Dabei geht es zum einen um die Aufarbeitung und Bewertung der Geschichte der ‚Tartuer Semiotik‘ als eines bemerkenswerten Beispiels sukzessiver Autonomisierung im Bereich ideologiefreier kulturwissenschaftlicher Forschung. Zum anderen war es das Ziel der um Ju. M. Lotman in Tartu versammelten Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen (Linguisten, Literatur-, Kunst-, Film- und Musikwissenschaftler sowie Volkskundler), Tex­te unterschiedlichster Provenienz, Kultur und Zeit als Manifestationen semiotischer Modelle in einer interdisziplinär angelegten Kulturwissenschaft systematisch und ohne Rücksicht auf die ansonsten in den sowjetischen Humanwissenschaften üblichen Vorvereinnahmungen durch die offizielle Ideologie des Marxismus-Leninismus zu untersuchen. Maxim Waldstein ist aufgrund von Interviews, Erinnerungen und (allerdings nicht allzu umfangreichem) Briefmaterial dieser soziologisch wie auch wissenschaftsgeschichtlich relevanten Frage akribisch nachgegangen und hat für Außenstehende, also nicht eng im russisch-sowjetischen Milieu verwurzelte Wissenschaftler ein in sich stimmiges und überzeugendes Bild gezeichnet. Dabei kam es ihm besonders auf die Unterschiede zwischen dieser im Bereich der Semiotik nach Autonomie strebenden Gruppe und den Wissenschaftlern der etablierten Institutionen, d.h. der Universität und der Akademie der Wissenschaften, an.

Des weiteren ist die von Maxim Waldstein erarbeitete Forschungsbilanz als Werbung für eine vertiefende systematische Analyse dieses in den Kulturwissenschaften grundlegend neuen, interdisziplinär konzipierten Ansatzes gedacht. Wiederholt weist er daher ermunternd darauf hin, dass es sich lohne, sich mit der russischen Semiotik und Kulturwissenschaft konstruktiv auseinanderzusetzen. Die Intention, die Tartuer Semiotik nach Westeuropa und in die USA zu vermitteln, so dass sich auch hier Philologen, Historiker, ja eigentlich alle mit Cultural Studies befassten Wissenschaftler mit dem „Kulturmodell von Tartu“ auseinandersetzen, um ihre eigenen Forschungsstrategien und -ziele weiterzuentwickeln. Dies erscheint ihm um so wünschenswerter, als der konsequente, sowohl analytische als auch integrative Charakter des Tartuer Forschungsansatzes für eine kulturorientierte Semiotik nicht nur innovativ ist, sondern auch ein bisher nicht ausgeschöpftes Potential an Erkenntnissen über die Kultur des Menschen und seine Entwicklung für eine künftige allgemeine, also auch westeuropäische und amerikanische Forschung im Bereich der Cultural Studies bietet.

Waldstein diagnostiziert zu Recht, dass trotz ihres Potentials als neu definierte Kultursemiotik russische (und man könnte hinzufügen: überhaupt osteuropäische) Theorieansätze außerhalb ihrer Entstehungsregion offenbar wegen Sprachbarrieren nicht wahrgenommen und so für lange Zeit auch nicht in den allgemeinen Wissenschaftsprozess integriert wurden. Es gehört allerdings zur Ironie der Geschichte, dass auch Maxim Waldstein selbst gerade aufgrund unzureichender Sprachkenntnisse die Rezeption und Reflexion der Tartuer Schule außerhalb der russisch- und englischsprachigen Welt schlecht kennt. Auch wenn ihm zweifellos große Verdienste um ein wenig aufgearbeitetes Kapitel russischer Wissenschaftsgeschichte zugesprochen werden müssen, so haften seiner Arbeit in diesem Bereich doch auch erhebliche Mängel an.

Die zweifache Aufgabe (Rekonstruktion einer bedeutenden intellektuellen Nischenentwicklung im sowjetischen Wissenschafts­system seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts und die Analyse, Profilierung und Interpretation einer integrativen Semiotik und Kulturwissenschaft) bewältigt Waldstein unterschiedlich, wenn auch im Ganzen zuverlässig. Der wissenschaftssoziologische Teil ist in sich stimmig und in seinen Erkenntnissen über die Entwicklungstendenz bemerkenswert, obwohl er fast ausschließlich auf mündlichen Quellen und ungedruckter Korrespondenz beruht. Der die Semiotik betreffende und kulturwissenschaftlich orientierte Teil ist in seiner Deskription und allgemeinen Beurteilung einsichtig rekonstruiert, auch wenn er bei der systematischen Konzeptionsrekonstruktion und methodologischen Analyse noch stärker in die Tiefe hätte gehen müssen, um vor allem sein innovatives Potential besser und übersichtlicher als Werbematerial für weitergehende wissenschaftstheoretische Überlegungen präsentieren zu können. In diesem Teil der Arbeit wäre es weniger darauf angekommen, die westeuropäischen Theorieentwicklungen und Diskussionen um Cultural Studies so – wie in der Dissertation geschehen – ausführlich zu behandeln, weil sie von russischer Seite nie kritisch rezipiert wurden und daher auch indirekt keinen wesentlichen Anteil an der Entwicklung der Tartuer Schule hatten. Auch wurden die typologischen Unterschiede zwischen den Entwicklungen in Frankreich, den USA und England, geschweige denn in Polen, der Tschechoslowakei und Deutschland nicht deutlich genug herausgearbeitet. Statt einer Deskription von Einzelerscheinungen wäre es hier eher auf die Herausarbeitung der Unterschiede der erkenntnistheoretischen Diskussionen angekommen, die in jener Zeit geführt wurden. Solche Diskussionen wurden in der Tartuer Schule allein schon aus Angst vor Konflikten mit der dominierenden Ideologie peinlichst vermieden.

So interessant und wichtig die Arbeit von Maxim Waldstein ist, so ist es auch offensichtlich, dass beide Hauptteile der Arbeit unterschiedliche Schwerpunkte haben und daher zwei getrennte Publikationen verdient hätten, schon deshalb, weil sie nicht konsequent miteinander verknüpft wurden (und wohl auch nicht werden können).

Bewundernswert sind – neben der offenbar jahrelangen gründlichen Recherche – die für Außenstehende interessanten Einblicke in den Differenzierungsprozess der sowjetischen Humanwissenschaften nach Stalin. Allerdings irritieren den Leser gewisse stilistische Momente, die bei einer Monographie diesen Typs hätten vermieden werden sollen: Erwähnt seien hier beispielsweise die ständigen Vorankündigungen der einzelnen Arbeitsschritte. So ist es schade, dass der Autor dieser Arbeit, die ein sehr wichtiges Phänomen der Nachkriegszeit in der Sowjetunion behandelt, es nicht verstanden hat, sich streng auf das Notwendigste zu beschränken. Eine redaktionelle Überarbeitung der Dissertation sowie eine anschließende Veröffentlichung in einem für Wissenschaftsliteratur eingeführten Verlag wäre wünschenswert.

Karl Eimermacher, Bochum/Berlin

Zitierweise: Karl Eimermacher über: Maxim Waldstein The Soviet Empire of Signs. A History of the Tartu School of Semiotics. VDM Verlag Dr. Müller Saarbrücken 2008. XII, ISBN: 978-3-639-05605-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Eimermacher_Waldstein_Soviet_Empire_of_Signs.html (Datum des Seitenbesuchs)

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