Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 428-430
Verfasst von: Benno Ennker
Sandra Dahlke: Individuum und Herrschaft im Stalinismus. Emel’jan Jaroslavskij (1878–1943). München: Oldenbourg, 2010. 484 S., Abb. ISBN: 978-3-486-58955-9.
Dieses Werk gehört zu den ersten wenigen Biographien von maßgebenden Politikern der Stalin-Periode unterhalb des engsten Führungszirkels um den vožd’, die sich auf das Studium von Archivdokumenten stützen. Die Dissertation wurde 2008 mit dem Fritz-Theodor-Epstein-Preis des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und Osteuropahistoriker ausgezeichnet.
Emel’jan Jaroslavskij war Alt-Bolschewik. Am Anfang und Ende seiner politischen Karriere ZK-Mitglied, leitete er von 1923 bis 1934 das Parteigericht in der Zentralen Kontrollkommission. Vor allem war er führend als Ideologe und Propagandist auf dem Feld der Parteigeschichte tätig und nicht zuletzt auch auf dem des „antireligösen Kampfes“. Parallel dazu organisierte er als einer der Leiter die Traditionsvereine „Gesellschaft alter Bolschewiki“ und „Gesellschaft ehemaliger Zwangsarbeiter und Verbannter“. In der vorliegenden Lebensbeschreibung soll die Person Jaroslavskijs „als Fokus dienen, um zu zeigen, wie bolschewistische Herrschaft funktioniert und wie sie auf ihre Träger zurückgewirkt hat.“ (S. 16)
Zu den Quellen dieser Arbeit zählen neben den Dokumenten aus den politischen Archiven auch solche – bei bolschewistischen Politikern selten zu findende – aus dem Familienarchiv der Jaroslavskijs, die in Gestalt persönlicher Aufzeichnungen und des Briefwechsels mit der Ehefrau Klavdija Kirsanova Einblick in Wahrnehmungen, Selbstzuschreibungen und Motive dieses hohen ideologischen Würdenträgers des Regimes zu geben versprachen.
Jaroslavskij eignete sich sein Bildungswissen in Geschichte und Literatur während der Zeit vor dem Oktoberumsturz als Autodidakt in Gefängnissen oder in der Verbannung ausschließlich für die Zwecke der bolschewistischen Revolution an. So hatte er zu Wissenschaft und Kultur ein gänzlich instrumentelles Verhältnis, wie es von den Bolschewiki unter dem Prinzip der „Parteilichkeit“ verlangt wurde. Sandra Dahlke verfolgt in ihrer Darstellung die politische Karriere Jaroslavskijs, die bis 1930 in einem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg bis in den Kreis der Auserwählten um Stalin führte, die sich anlässlich seines 50. Geburtstags mit ihren ersten Panegyriken im Glanz der neuen Führer-Autorität sonnen durften. Die Autorin beschreibt, wie Jaroslavskij das Schreiben und Streiten über Parteigeschichte mit der Rolle als einer der maßgebenden „Organisatoren revolutionärer Erinnerung“ zu verbinden verstand. Er konnte lange Zeit dieses Geflecht von Positionen in Verbänden und in höheren Institutionen der Parteischulung sowie in Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen so nutzen, dass er weite Bereiche unter seine Patronage nehmen und aus ihnen „soziales Kapital“ für seine eigene wissenschaftliche und politische Machtpositionierung in den Statuskämpfen unter den Historikern des Sowjetstaates gewinnen konnte. Dahlke betrachtet diese Geschichtspolitik als „Identitätspolitik“, die der „Papst“ des Bolschewismus auf die „alte Generation“ der Revolutionäre ausrichtete, als deren Patron er sich gerierte. Stalin, dem Patron, dem Jaroslavskij seinerseits diente, ging diese Sammlung politisch-ideologischer Macht-Ressourcen bald zu weit. Er hielt sich in den dreißiger Jahren die „alten Bolschewiki“ und ihre Projekte aus der frühen Sowjetzeit – alle, die er nicht zu seinen politischen und geistigen Kreaturen rechnete – auf Distanz. Deswegen waren ihm nicht nur die sowjetischen Traditionsgesellschaften, sondern auch die „militanten Gottlosen“ und deren Patron suspekt.
Folglich erlebte Jaroslavskij seit 1931 bis in die zweite Hälfte der 30er Jahre öffentliche Diskriminierung, Marginalisierung und Demütigung, die ihn durch persönliche Krisen bis zur Unterwerfung führten. Auch damit erlangte er nicht gleich die ersehnte Wiederaufnahme als zuverlässiger Gefolgsmann des „Führers“. Selbst als Mitautor des „Kratkij kurs“ der Parteigeschichte erlangte Jaroslavskij nicht dessen volles Vertrauen. Der chozjain ließ ihn derweil als einen der Haupt-Protagonisten des Stalin-Kultes agieren, ohne ihm doch die erhoffte Ehre des Oberpriesters zuzugestehen. Am Ende, 1943, blieb ein auf den Tod kranker Stalinist, der seine Frau bei Stalin flehentlich um ein wenig Aufmerksamkeit betteln ließ.
Im Verhältnis von „Individuum und Herrschaft“ spielte sich ein Seelendrama ab. Sandra Dahlke versucht daher diese Biographie als Geschichte von Jaroslavskijs Subjektivität dazustellen. Diese war geprägt durch eine Identitätspolitik, deren Referenzpunkt zunächst das Kollektiv der „alten Garde“ war, dann aber – als diese entwertet und vernichtet war – zunehmend nur noch das eigene Ich, das immer neu für die Umsetzung von Stalins Willen konditioniert und diszipliniert wurde. Die Autorin vermeidet dabei, dem Stalinisten Jaroslavskij „Zynismus“ zuzuschreiben. Es ist eine Geschichte von Identität und Motiven, von Wahrnehmungen, Statusanspruch und Enttäuschung. Dies wird ohne Zweifel durch die sogenannten Ego-Dokumente nahegelegt, die die Autorin vorrangig für ihre Interpretationen heranzieht. Daraus ergibt sich eine Lebensbeschreibung, wie sie bisher kaum über einen führenden Stalinisten geleistet wurde, einen bolschewistischen „Auftragsintellektuellen“ (Dahlke). Es ist der originelle Versuch, das Funktionieren bolschewistischer Herrschaft aus der Perspektive einer „Welt als (Stalins) Wille und (Jaroslavskijs) Vorstellung“ zu analysieren.
Allerdings bleiben Zweifel, ob sich diese Darstellung nicht zu sehr in Jaroslavskijs Subjektivität versenkt hat, wenn immer wieder betont wird, dass er das, was er schrieb und tat, auch „glaubte“. (S. 142–143, 146 ff, 161–162, 171 ff, 338) Historikern droht regelmäßig die „Authentizitätsfalle“, wenn sie in sogenannten Ego-Dokumenten auf diese „Rhetorik des Glaubens“ stoßen. P. Veyne (Glaubten die Griechen an ihre Mythen? 1987) sprach in diesem Zusammenhang von der „Modalität des Glaubens“. Autoren dieser Dokumente kommt es nicht auf eine inhaltliche Wahrheit ihres Glaubens an, sondern sie suchen mit ihrer Rhetorik des Glaubens für sich und andere eine bestimmte kulturelle oder politische Funktion zu erfüllen: In diesem Fall war dies die beständige Selbstkonditionierung und Adaptierung an den Willen des Herrschers.
Für die Lebensgeschichte von Jaroslavskijs Subjektivität wird immer wieder der historische Kontext – bestehend in der politischen Geschichte von Stalins Aufstieg und Herrschaft – hergestellt. Doch abstrahiert dieser Kontext gar zu sehr von Jaroslavskij als politischem Akteur. Zunächst ist es ein großer Mangel, dass der „halbe Jaroslavskij“, nämlich die Seite seines „antireligösen Kampfes“, aus der Darstellung ohne plausible Erklärung ausgelassen wird. Dieser Mission war etwa die Hälfte seiner vielen Veröffentlichungen gewidmet. Die Autorin hat zudem selbst eine der ersten quellenbasierten Monographien zu dem Thema geschrieben. Umso empfindlicher vermisst man deren Erkenntnisse im Kontext von Jaroslavskijs politischer Biographie. Den Folgen von Jaroslavskijs publizistischer Hetze, seiner Denunziationen und Verfolgungsaufrufe sowie den Aktionen der von ihm geführten „Bewegung der militanten Gottlosen“, vor allem seinem Wirken als Vorsitzender der „Antireligiösen Kommission“ beim ZK in Kooperation mit der ČK/GPU waren Tausende zum Opfer gefallen; ganz zu schweigen von der Zerstörung von Kirchen, der Indizierung von russischer Literatur zur Entfernung aus den Bibliotheken, die Jaroslavskij betrieb. Vor diesem Hintergrund berührt es merkwürdig, wenn unkommentiert wiedergegeben wird, dass dieser Akteur in der sowjetischen Entstalinisierung (1956 und 1989) „nicht der Gruppe der Täter zugerechnet“ wurde. (S. 435)
So erhellend die ausführliche Darstellung und Interpretation von Jaroslavskijs Wirken bei den Manövern an der „historischen Front“ sind, erhebt sich aus dem Dargelegten selbst die Frage: War nicht sein Wirken als Sekretär des obersten Parteigerichts in der Zentralen Parteikommission für seinen Weg zum treuen Stalin-Gefolgsmann sehr viel bedeutsamer? Die nur summarisch auf ein paar Seiten dargestellte Verfolgung der Oppositionellen sowie die unerwähnt bleibenden Massensäuberungen der Partei umfassten elf Jahre seines Wirkens in dieser Position bis 1934. Der Ankläger im Namen der „Partei-Moral“ hat in diesem Prozess zugleich jegliche menschliche Moral in der Partei stigmatisiert. Wäre es nicht Wert gewesen, diese Entwicklung, die den „Inquisitor der Partei“ frühzeitig zum Instrument des Generalsekretärs machte, zu verfolgen? Kann von „intellektuellem Ehrgeiz“ eines Menschen gesprochen werden, der seine politische Eitelkeit nur erfüllen konnte, indem er sich durch „sacrificio intellectus“ dem vožd’ andiente? Wird bei diesem Mann nicht die selbst zugeschriebene Motivierung durch die klassische russische Literatur etwas zu ernst genommen (S. 146, 440), während derselbe sowohl Werke von Dostojewski als auch von Tolstoj auf den Index setzte, einen „atheistischen Puschkin“ propagierte und schließlich im Kampf gegen die deutsche Invasion darüber schrieb, warum Dostojewski die Deutschen hasste.
Diese kritischen Einwände sollen nicht die Leistung schmälern, die mit der Untersuchung von Jaroslavskijs Wirken in den Statuskämpfen und Interventionen an der „historischen Front“ sowie mit der Darstellung der Bedingungen erbracht wurde, unter denen er sich Stalin unterwarf und zum „graphomanischen“ Produzenten von dessen Kult wurde. Es sind Untersuchungen, die außerordentlich quellennah und zugleich angereichert mit Exkursen in die theoretischen und historiographischen Probleme sind. Die Vielzahl dieser Exkurse macht das Lesen des Buches nicht immer einfach und bereitet zudem den Boden für manche Redundanzen. Angesichts der unter den Sowjetunion-Historikern verbreiteten Lässigkeit im Zitieren von Archivdokumenten ist die sorgfältige und transparente Darstellung bei der Bezeichnung der Quellen in dieser Studie als beispielhaft hervorzuheben.
Am Ende erfüllt der „Papst“ der Atheisten Stalins Auftrag, in der „Pravda“ einen Artikel zu schreiben, „warum gläubige Menschen gegen Hitler sind“. Ein Auftragsintellektueller kennt nur den social’nyj zakaz – ob es sich um das Schreiben einer Stalin-Biographie oder um die Behandlung der russischen Literatur handelt. Wem die Wahrheit, die Moral, die Geschichte, der Glauben oder der Nicht-Glauben nur eine Funktion des Politischen sind, dem bleibt am Ende nur die Leere. Welch ein Triumph ist es da, an der Kreml-Mauer begraben zu sein.
Benno Ennker, Radolfzell
Zitierweise: Benno Ennker über: Sandra Dahlke: Individuum und Herrschaft im Stalinismus. Emel’jan Jaroslavskij (1878–1943). München: Oldenbourg, 2010. 484 S., Abb. ISBN: 978-3-486-58955-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ennker_Dahlke_Individuum_und_Herrschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)
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