Wladislaw Hedeler, Meinhard Stark Das Grab in der Steppe. Leben im GULAG: Die Geschich­te eines sowjetischen „Besserungsarbeits­lagers“ 1930–1959. Ferdinand Schöningh Ver­lag Paderborn [usw.] 2008. 465 S., Abb. ISBN: 978-3-506-76376-1.

Wladislaw Hedeler, Meinhard Stark (Hrsg.) KARLag. Das Karagandinsker „Besserungsarbeits­lager“ 1930–1959. Dokumente zur Geschich­te des Lagers, seiner Häftlinge und Bewacher. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.] 2008. 365 S. ISBN: 978-3-506-76377-8.

Die vorliegenden Bände sind das Resultat jahrelanger, äußerst ergiebiger Recherchen zum Karagandinsker Lagerkomplex, wo zwischen 1930 und 1960 Hunderttausende Sträflinge und Verbannte Zwangsarbeit verrichten mussten. In der weitläufigen, unwirtlichen kasachischen Steppe sollten sie Land- und Viehwirtschaft betreiben sowie Kohlevorkommen erschließen und ausbeu­ten. Aus einem beeindruckenden Quellenfundus lassen die Autoren die Entwicklung des Lagers und die Erfahrungen seiner Insassen plastisch und facettenreich hervortreten.

Anhand von Akten aus dem Lagerarchiv schildern sie zunächst die Handlungen der Kara­gandinsker Lagerverwaltung. Trotz der anspruchsvollen Aufgaben und schwierigen Arbeitsbedingungen hatte das Lager innerhalb des Lagersystems einen nachrangigen Status. Fortwährend musste es die widerstandsfähigsten und produktivsten Zwangsarbeiter an die industriellen Bauvorhaben des NKVD im Norden Sibiriens und im Fernen Osten abgeben, so dass der Anteil geschwächter Häftlinge konstant hoch war. Die Versorgung mit Ressourcen war unregelmäßig und unzureichend; noch nach Jahrzehnten mangelte es an Baumaterial; selbst Stacheldraht war knapp.

Nichtsdestoweniger verlangten die Moskauer Zentralbehörden sowohl die unbedingte Erfüllung der Produktionspläne als auch die Einhaltung der Regime- und Haftordnungen. Da das Schicksal der Lagerverwaltung hauptsächlich von der Erfüllung der Produktionsaufgaben abhing, räumte sie diesen die höchste Priorität ein. Ehemaligen Mitarbeitern der Lagerverwaltung fiel es daher nicht schwer, ihre frühere Tätigkeit rückblickend zu legitimieren: Von den Autoren interviewt, beschrieben sie das Lager unter nonchalanter Übergehung seiner Funktion als Strafanstalt als wichtige und verdienstvolle ‚Wirtschaftsorganisation‛. Dennoch erließ die Lagerverwaltung unablässig Befehle und Anordnungen, um neben der Planerfüllung auch den ordnungsgemäßen Betrieb des Lagers als Haftanstalt zu gewährleisten. Angesichts des utopischen Anforderungskataloges, der Ressourcenknappheit, des geringen Qualifikationsniveaus des Lagerpersonals, der gewaltigen Ausdehnung des Lagerkomplexes und des Störfaktors der weitgehend autonom agierenden politischen Abteilung herrschte in der Praxis freilich alles andere als strikte, zentralisierte Kontrolle über die Geschehnisse im Lager. Auf lokaler Ebene prägten daher nicht nur institutionalisierte Gewalt und systemisch generierter Mangel, sondern auch Vernachlässigung, Korruption, Willkür und Übergriffe den Arbeits- und Lebensalltag der Häftlinge.

Die außergewöhnlich detaillierten Rekonstruk­tionen der daraus resultierenden, zumeist elenden Lebensumstände im Lager zählen zu den stärksten Teilen der Darstellung. Hierzu haben die Autoren nicht nur Häftlingserinnerungen herangezogen, sondern auch zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen geführt und Hunderte von Häftlingsakten ausgewertet. Die Reichhaltigkeit dieser Kapitel kann hier nur angedeutet werden; hervorgehoben seien die Vielfalt von Zitaten zu individuellen Häftlingserfahrungen sowie die Ausführungen zu praktischen und psychologischen Überlebens- und Deutungsstrategien.

Trotz der geleisteten Pionierarbeit entspricht das sich bei der Lektüre ergebende Bild oft bis in Details dem bisherigen Wissensstand zu den stalinistischen Lagern. Daher ist bedauerlich, dass auf die Einbettung der Arbeit in den einschlägigen Forschungsstand weitgehend verzichtet wurde. Gerade weil die Autoren so gründ­liche und aufwendige Forschungen in lokalen Archiven betrieben haben, verwundert zudem, dass sie ungleich leichter zugängliche Quel­len – namentlich den Archivbestand der La­gerhauptverwaltung GULAG im Staatsarchiv der Russischen Föderation – kaum berücksichtigt haben. Die Chance, den Platz und die Rolle des Karagandinsker Lagers innerhalb des gesamten Lagersystems zu bestimmen, seine Besonderheiten und typischen Charakteristika herauszuarbeiten, bleibt damit weitgehend ungenutzt. Beispielsweise wäre es ein leichtes gewesen, die mit viel Mühe vor Ort eruierten Häftlingszahlen mit den in den Zentralarchiven aufbewahrten und teilweise veröffentlichten aggregierten Statistiken in Beziehung zu setzen. Aus all dem ergibt sich, dass die Autoren viel Bekanntes nuancieren, bisweilen aber auch hinter dem aktuellen Diskussionsstand zurückbleiben – etwa bei der Betrachtung der ökonomischen Tätigkeit des Lagersystems. In der Hauptsache freilich erzählen sie mit ihren eigenen, unbestreitbar wertvollen Quellen Varianten von Geschichten, die nicht nur Spezialisten, sondern auch Lesern zahlreicher veröffentlichter Häftlings­erinnerungen im Großen und Ganzen vertraut sind.

Mit dem Quellenreichtum der Monographie, welchen der Dokumentenband, der allerdings hauptsächlich Befehle (prikazy) des Lagerdirektors enthält, noch vermehrt, verbindet sich eine weitere Schwäche. Die Darstellung ist derart von Quellen gesättigt, dass sie sich stellenweise in deren Nacherzählung erschöpft. Dort, wo sie sich vornehmlich auf administrative Quellen stützt, kommen bisweilen deren Sprache und Denk- und Argumentationsmuster zum Vorschein. Quellenbegriffe wie „notorische Verletzer der Haftordnung“ oder „konterrevolutionäre Verbrechen“ finden ohne Hervorhebungen Eingang in den Text; in administrativen Do­kumenten gelieferte Begründungen von Schwierigkeiten und Problemen werden ohne weitere Diskussion übernommen. Bei der Wiedergabe von Aussagen ehemaliger Gefangener dominieren wiederum deren Interpretationen und Bewertungen von Ereignissen und Erlebnissen.

Wird dagegen die Stimme der Autoren vernehmlich, formuliert sie mitunter eher normative Aussagen denn produktive Fragestellungen. Mit der Bewertung von Maßnahmen der Lager­ad­ministration als rücksichtslos und menschenverachtend mag man einverstanden sein, doch beantwortet sie nicht die Frage nach den Gründen eines solchen Handelns. Diese zu reflektieren war zwar offenkundig nicht das Anliegen der Autoren. Doch wenn Hedeler und Stark etwa aus der chronischen Unfähigkeit der Lagerverwaltung, Verstöße gegen die Lagerordnung abzustellen, folgern, jene habe ihre eigenen zahl­losen, im Dokumentenband gesammelten Be­fehle und Anordnungen gar nicht erfüllt sehen wollen, kann ein derart normativ gefärbter Schluss nicht recht überzeugen. Immerhin bot sich ein analoges Bild nicht nur in vielen anderen Lagern, sondern auch in den zentralen Verwaltungsbehörden in Moskau, von anderen Bereichen des sowjetischen Staats- und Parteiappa­rates ganz zu schweigen. Äußerte sich hier – wie auch in der regelmäßigen Auswechslung der Lagerkommandanten im Zweijahresrhythmus – nicht vielmehr ein für das Sowjetsystem, zumal in seiner stalinistischen Ausprägung, charakteristischer, gleichsam hilfloser Ak­tionismus angesichts der Unmöglichkeit, einander zuwiderlaufende, jedoch mit bolschewistischer Kom­promisslosigkeit gestellte Anforderungen vollständig zu erfüllen? Ein anderes Beispiel: Die Idee des Lagerkommandanten, ein Lagermuseum einzurichten, wird von Hedeler und Stark als einfältig abgetan; Initiativen zur Organisation „sozialistischer Wettbewerbe“ nicht nur zur Produktionssteigerung, sondern auch zur Ver­besserung der Häftlingsunterkünfte oder Propaganda mit den Ergebnissen der den Häftlingen abverlangten Zwangsarbeit werden als zynisch, ja als abartig bezeichnet. Die Möglichkeit, in solchen Handlungen Merkmale des in der Tat andersartigen Sowjetsystems zu erkennen und sie somit besser zu verstehen, wird vertan.

Derlei kritische Anmerkungen sollen jedoch nicht im geringsten die immense Leistung schmälern, die die Autoren vollbracht haben. Zweifelsohne haben Hedeler und Stark die anschaulichste und umfassendste Darstellung eines stalinistischen Lagerkomplexes in deutscher Sprache vorgelegt. Für tiefergehende Analysen und Interpretationen der von ihnen zusammengetragenen und vorbildlich aufbereiteten Informationsfülle haben sie eine geradezu monumentale Vorarbeit geleistet.

Simon Ertz, Stanford, CA

Zitierweise: Simon Ertz über: Wladislaw Hedeler, Meinhard Stark: Das Grab in der Steppe. Leben im GULAG: Die Geschichte eines sowjetischen „Besserungsarbeitslagers“ 1930–1959. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.] 2008. ISBN: 978-3-506-76376-1. Wladislaw Hedeler, Meinhard Stark (Hrsg.) KARLag. Das Karagandinsker „Besserungsarbeitslager“ 1930–1959. Dokumente zur Geschichte des Lagers, seiner Häftlinge und Bewacher. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.] 2008. ISBN: 978-3-506-76377-8, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 307: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ertz_Hedeler_Grab_KARLag.html (Datum des Seitenbesuchs)