Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 2, S. 335-337

Verfasst von: Klaus-Peter Friedrich

 

Franziska Bruder: Hunderte solcher Helden. Der Aufstand jüdischer Gefangener im NS-Vernichtungslager Sobibór. Berichte, Recherchen und Analysen. Münster: Unrast, 2013. 182 S., 14 Abb. = reihe antifaschistischer texte, 24. ISBN: 978-3-89771-822-7.

Es fällt schwer, die neue Publikation von Franziska Bruder den herkömmlichen Textgattungen wissenschaftlicher Untersuchungen eindeutig zuzuordnen. Im Mittelpunkt stehen vier Zeitzeugenberichte von jüdischen Beteiligten an den Aufständen im nationalsozialistischen Vernichtungslager Sobibór. Die Verfasserin veröffentlicht diese in deutscher Übersetzung. Den umfangreichsten hat Aleksandr Aronowitsch Petscherski (Александр Аронович Печёрский, 1909–1990) hinterlassen, ein jüdischer Unteroffizier der Roten Armee, der Ende September 1943 ins Lager Sobibór verschleppt wurde. Er entwickelte den Plan für den Häftlingsaufstand und führte ihn mit etlichen Mitgefangenen aus. Nach der Flucht schloss er sich den in Ostpolen tätigen Sowjet-Partisanen an. Weitere Erinnerungsberichte gehen auf Icchak Lichtman, Jehuda Lerner und Mordechaj Goldfarb zurück. Illustriert wird dies alles durch Fotos und Dokumente, die meist aus dem Privatarchiv der Tochter von Petscherski, Eleonora Grinevič, in Rostov am Don stammen.

Den Erinnerungen der am Aufstand beteiligten Zeitzeugen folgt ein von Franziska Bru­der verfasster monografischer Teil. Zu Petscherskis tagebuchähnlicher Schilderung hat sie einen eigenen Bericht beigesteuert, in welchem sie auf dessen Überlieferung und verschiedene Textversionen eingeht, die miteinander abgeglichen wurden. Bemerkenswert erscheint, dass das Jüdische Historische Institut in Warschau 1952, als Juden in der Sowjetunion verfolgt wurden, die polnische Übersetzung des bedeutendsten Berichts über den Aufstand im Vernichtungslager Sobibór veröffentlichen konnte (Aleksander Pec­zor­ski: Powstanie w Sobiborze, in: Biuletyn Żydowskiego Instytutu Historycznego, Nr. 3, S. 3–45).

Im folgenden Kapitel Akteure des Aufstandes und Überlebende des Krieges fasst Bruder ihre Kenntnisse über die Beteiligten zusammen, wobei auch Zeugnisse weiterer Häftlinge mit einfließen, soweit sie im Archiv des Jüdischen Historischen Instituts, von Yad Vashem und in den Unterlagen der deutschen Verfolgungsbehörden greifbar sind beziehungsweise sich in der – vergleichsweise übersichtlichen – Literatur widerspiegeln.

Mit der Nachzeichnung der justiziellen Nachgeschichte befasst sich die Verfasserin im Kapitel Der Kampf ist nicht zu Ende. Die Bedeutung der Aufständischen und Überlebenden für die Verurteilung der SS-Männer von Sobibór. Hier lässt Bruder etliche längere Zitate aus den Ermittlungsakten und der Tagespresse mit einfließen. Einige der Überlebenden ließen sich für ein paar Jahre im besetzen Deutschland nieder und setzten sich – mit nicht geringem Erfolg – tatkräftig dafür ein, die Massenmörder vor Gericht zu bringen. Auch in den späteren bundesdeutschen Prozessen sagten sie aus, obwohl die Umstände einer Zumutung gleichkamen, denn „sie sahen sich mit dem Zynismus der Täter konfrontiert, die alles frech abstritten, mit der Ignoranz und der Missachtung des Gerichts und mit direkten Angriffen auf ihre persönliche Integrität durch die Anwälte der Verteidigung“ (S. 169). So mussten sie noch einmal, im fortgeschrittenen Alter, wahren Heldenmut aufbringen.

Die vorliegende Publikation hätte durch ein kundiges abschließendes Lektorat einiges gewonnen. Die Übersetzungen sind ein ums andere Mal holprig bis ungelenk. Warum Stanislau (poln. Stanisławów) für 1922 der „Westukraine“ zugeordnet (S. 124) und die Deportation jüdischer Deutscher aus Stettin mehrmals mit dessen späterem polnischen Namen Szczecin verbunden wird, erschließt sich dem Leser nicht. Bei der Kommentierung vermisst man mitunter weitergehende Informationen über die Handelnden (Wachs, S. 18, Klatt, S. 45, Hochberg, S. 46, Gaulstich, S. 48). Manchmal greift die Erklärung zu kurz, etwa wenn es in Bezug auf das Warschauer Getto heißt, eine „Klozna-Straße“ habe es „im Stadtplan von Warschau von 1939“ nicht gegeben, und die zur Deportation zusammengetriebenen „Menschen wurden auf einem großen Platz in der (ein Wort unlesbar) Straße gesammelt“ (S. 82) – denn offenbar ist von der Chłodna-Straße und vom sog. Umschlagplatz an der Stawki-Straße die Rede. Was die hier mit 1,3 Millionen sehr niedrig angegebene Opferzahl der drei Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ angeht, beruft sich die Verfasserin (S. 8) allein auf Timothy Snyders Buch Bloodlands (in dessen polnischer Übersetzung von 2011). Doch nach einer internen Zählung der deutschen Besatzungsverwaltung wurden dort allein bis Ende 1942 nicht weniger als 1.274.166 Menschen ermordet (Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Bd. 9: Polen: Generalgouvernement August 1941 bis 1945. Bearb. von Klaus-Peter Friedrich. München 2014, Dok. 204, S. 570). Insgesamt starben in den drei Lagern mindestens 1.420.000 Menschen. Von den 320 der rund 550 jüdischen Gefangenen, die bei dem Aufstand am 14. Oktober 1943 flohen, überlebten nur 53 den Krieg. Der monografische Teil enthält leider manche fragwürdige oder gar falsche Behauptung (etwa S. 134: „Viele [polnische Juden], vor allem Kommunisten, begriffen sich in erster Linie als Polen und dann erst als Juden. Dies galt sicher auch für viele sowjetische Kriegsgefangene.“) Der Inhalt lässt sich über ein Personen- sowie ein Orts- und Sachregister erschließen.

Trotz gewisser Schwächen ist Bruders Publikation ein nützliches Werk, da es zum ersten Mal wichtige, doch hierzulande immer noch kaum bekannte Zeugenaussagen der jüdischen Aufständischen von Sobibór in den Mittelpunkt rückt. Damit hat sie zugleich an eine kleine Gruppe derjenigen erinnert, die sich dem nationalsozialistischen Judenmord in Polen dank eigener Tatkraft entgegenstemmte. Dies war die Voraussetzung dafür, dass es einigen Dutzend von ihnen gelang, dem Morden – auch mit Glück – zu entrinnen und dann über das Vernichtungslager Zeugnis abzulegen.

Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich über: Franziska Bruder: Hunderte solcher Helden. Der Aufstand jüdischer Gefangener im NS-Vernichtungslager Sobibór. Berichte, Recherchen und Analysen. Münster: Unrast, 2013. 182 S., 14 Abb. = reihe antifaschistischer texte, 24. ISBN: 978-3-89771-822-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Friedrich_Bruder_Hunderte_solcher_Helden.html (Datum des Seitenbesuchs)

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