Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Klaus-Peter Friedrich

 

Gershon D. Hundert (ed.) The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Vols. Prepared for Publication by the YIVO Institute for Jewish Research. New Haven, London: Yale University Press, 2008. Vol. 1-2: XXVIII, 2400 S., Ktn., zahlr. Abb. ISBN: 978-0-300-11903-9.

Seine Entstehung verdankt das Lexikon über die Geschichte der Juden Osteuropas dem Wunsch zahlreicher jüdischer Menschen in Nordamerika und in Israel, sich auf einfachem Wege über einzelne Aspekte des Lebens ihrer Vorfahren zu informieren. Das YIVO, das Jiddische Wissenschaftliche Institut in New York, formte aus der Idee ein Projekt, das Ende der neunziger Jahre begonnen und nach zehn Jahren erfolgreich abgeschlossen wurde. Voraussetzung war der politische Wandel im Ostblock in den späten achtziger Jahren, welcher die jüdische Geschichtsschreibung dort zu neuem Leben erweckte und es möglich machte, den ehemals sowjetischen Herrschaftsbereich in den internationalen Forschungsdiskurs einzubeziehen. Wenngleich sich dort, insbesondere in der Wirtschaftsgeschichte, bis heute Lücken auftun.

Die Herausgeber ließen sich programmatisch von einem„unvoreingenommenen Filiopietismus“ (S. IX) leiten, also einer ethnischen Geschichtsschreibung, die die Erfahrungswelt von Vorfahren erläutert, ohne sie zu dramatisieren oder zu beschönigen. Hauptherausgeber Gershon D. Hundert erklärt dies als ein Übersetzen im doppelten Wortsinn – aus dem Bereich des Jiddischen (sowie des Hebräischen und der jeweiligen Landessprachen) ins Englische; er verbindet dies aber auch mit der Aufgabe, die vielgestaltige Kultur der Juden Osteuropas und ihr Alltagsleben dem heutigen Betrachter zu vermitteln, sie anschaulich und zugleich verständlich zu machen. Sekundär ist demgegenüber die Frage, welchen Beitrag einheimische Juden zu der jeweiligen Nationalkultur leisteten. Die geographischen Grenzen umschließen die Staaten Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Polen, die baltischen Republiken, Finnland, Moldawien, Ukraine, Weißrussland und Russland. Für Letzteres wird der Landesteil westlich des Urals einbezogen, obgleich es natürlich auch einen Artikel zum fernöstlichen „Jüdischen Autonomen Gebiet“ Birobidžan (von Da­vid Shneer) gibt. Gebiete an der westlichen Grenze (wie das Burgenland oder Schlesien) wurden großzügig mit aufgenommen. Zeitlicher Endpunkt ist das Ende des Jahrtausends. Zwar lag es nahe, mit 1939 zu enden, doch hörte jüdisches Leben während und nach der Katastrophe unter der nationalsozialistischen Herrschaft nicht völlig auf. Da es zur Verfolgung der Juden unter dem Nationalsozialismus bereits Speziallexika gibt, konzentriert sich die YIVO Encyclopedia hier auf „the Jewish experience and Jewish responses“ (S. XII).

Hundert und seine 33 Mitstreiter aus dem Herausgebergremium versicherten sich der Mitarbeit von 450 Beiträgern aus 16 Ländern; sie sind hinter dem nützlichen Glossar in einem eigenen Verzeichnis aufgeführt (S. 2153–2168). Vor der ersten Benutzung empfiehlt sich ein Blick in die Inhaltsübersicht und Gliederung des Lexikons (Synoptic outline of contents, S. 2169–2182). Beiträge wurden in zehn verschiedenen Sprachen eingesandt, die übersetzt und mehrfach redigiert werden mussten. Gelder aus Deutschland, die aus den Mitteln der „Conference on Jewish Material Claims against Germany“ 2001 zur Verfügung gestellt wurden, leisteten die Anschubfinanzierung, und weitere Geber ermöglichten es, über den ursprünglich gesetzten Rahmen eines einbändigen Lexikons hinauszugehen und es auf mehr als 1800 Artikel auszudehnen.

Die meisten von diesen – zu Personen, Orten, Institutionen, Ereignissen oder Sachthemen – sind Einzelbeiträge. Zu den Letzteren gehören etwa Artikel zu Denkmälern, Erinnerung, Fotografie, Geld, Grabsteinen oder Namen. Die Ursprünge des modernen Antisemitismus werden ebenfalls berücksichtigt (vgl. etwa Tiszaeszlár blood libel, S. 1883–1885). Bei der Aufnahme von Orten haben sich die Herausgeber Zurückhaltung auferlegt; hierzu gibt es bereits die israelische „Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust“ in einer hebräischen Lang- und einer dreibändigen englischen Kurzfassung (New York 2001).

Die biographischen Artikel erfassen – so die leitende Definition – „jene, die von Anderen als Juden betrachtet wurden und die sich selbst als Juden ansahen“; Personen mit nur einzelnen, entfernten jüdischen Vorfahren wurden nicht aufgenommen. Zudem muss die Person „etwas Bedeutendes in Osteuropa geleistet“ haben (S. XIII), also nicht erst nach ihrer Emigration in der neuen Heimat. Dessen ungeachtet ist hier auch Platz für den polnischen Prosaisten Leo Lipschütz bzw. Lipski (1917–1997), der in Zürich geboren wurde, die meiste Zeit seines Lebens außerhalb Polens verbrachte und Jahrzehnte lang nur in der Emigrationspresse publizieren konnte.

Personen, die im Hauptteil auf Anhieb nicht zu finden sind, sollten stets auch über das sehr detaillierte Register und ggf. unter Schreibvarianten gesucht werden. Manchmal sind Sachartikeln Biogramme angeschlossen, etwa jiddische Schriftsteller zur jiddischen Literatur. Solche zusammengesetzten Einträge enthalten zwei oder mehr von verschiedenen Autoren verfasste Teilbeiträge zu ein und demselben (dann häufig zeitlich unterteilten) Schlagwort. Die Artikel schließen jeweils mit weiterführenden Hinweisen auf die Forschungsliteratur, soweit möglich in englischer Sprache. Das komplizierte Problem, wie Orts- und Personennamen in einer möglichst einheitlichen Version zu fassen sind, wurde – nach manchmal gewiss langwierigen Abstimmungsverfahren – am Ende überzeugend gelöst, wobei generelle Festlegungen stets auch gut begründete Ausnahmen zuließen (S. XVIII–XIX). Der gesamte Apparat am Ende von Band 2 umfasst über 250 Seiten.

Bereichert wird der Wissensschatz durch zahlreiche aussagekräftige Karten sowie durch eine Vielzahl von Abbildungen, die aus anderen gängigen Veröffentlichungen nicht bekannt sind; ein großer Teil davon entstammt den fotografischen Sammlungen des YIVO. Manchmal ist die Zuordnung nicht sinnvoll gelöst; so findet sich die Abbildung von Studenten der Jeschiwa von Mir auf S. 1215, während die Hochschule selbst auf S. 1181 abgehandelt wird.

Dank der Mitwirkung hervorragender Spezialisten und einer bewundernswerten editorischen und organisatorischen Leistung bei der vereinheitlichenden Aufbereitung ist es der „YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe“ nicht nur gelungen, die „gesamte historische Erfahrung“ (S. XI) der Ostjuden dem heutigen Leser näherzubringen. Sie stellt auch ein unverzichtbares Nachschlagewerk für jede Form der künftigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Juden Osteuropas dar. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass es seit Mitte 2010 auch über das Netz abrufbar und über Suchfunktionen erschließbar ist (http://www.yivoencyclopedia.org/.

Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich über: Gershon D. Hundert (ed.) The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Vols. Prepared for Publication by the YIVO Institute for Jewish Research. Yale University Press New Haven, London 2008. Vol. 1-2: XXVIII. ISBN: 978-0-300-11903-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Friedrich_Hundert_YIVO_Encyclopedia.html (Datum des Seitenbesuchs)

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