Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 304-305

Verfasst von: Klaus-Peter Friedrich

 

Polska 1939–1945. Straty osobowe i ofiary represji pod dwiema okupacjami [Polen 1939–1945. Menschenverluste und Repressionsopfer unter den zwei Okkupationen]. Pod red. Wojciecha Materskiego i Tomasza Szaroty. Warszawa: Instytut Pamięci Narodowej (IPN), 2009. 353 S., Tab. ISBN: 978-83-7629-067-6.

Über Jahrzehnte hinweg gab es keine zuverlässige, detaillierte Untersuchung zu der Frage, wie viele ethnische Polen unter der deutschen Herrschaft in Polen in den Jahren 19391945 getötet wurden. Im Januar 1947 war offiziell verkündet worden, dass die „biologischen Verluste der polnischen Gesellschaft“ unter der deutschen Besatzung 6.028.000 Personen betrügen. Erst seit dem Ende der Volksrepublik Polen wurde diese Größe immer wieder in Zweifel gezogen, zuerst 1993 durch Czesław Madajczyk; Władysław Bartoszewski und Piotr Madajczyk gingen bald darauf von 2 Millionen polnischen Todesopfern aus, während Feliks Tych sie 2001 und 2004 auf 0,61,7 Millionen schätzte; in den USA hatte Lucjan Dobroszycki 1993 eine Größenordnung von 0,51,4 Millionen angegeben. (Einzelnachweise siehe bei Klaus-Peter Friedrich: Erinnerungspolitische Legitimierungen des Opferstatus: Zur Instrumentalisierung fragwürdiger Opferzahlen in Geschichtsbildern vom Zweiten Weltkrieg in Polen und Deutschland, in: Dieter Bingen / Peter Oliver Loew / Kazimierz Wóycicki (Hgg.): Die Destruktion des Dialogs. Zur innenpolitischen Instrumentalisierung negativer Fremd- und Feindbilder. Polen, Tschechien, Deutschland und die Niederlande im Vergleich, 19002005. Wiesbaden 2007, S. 176191.)

Das vom Institut für das Nationale Gedenken in Warschau angestoßene Projekt über die Menschenverluste ließ hoffen, dass der Geschichtswissenschaft eine glaubhaftere Neuberechnung zur Verfügung gestellt würde. Diese müsste vom Stand der Forschung ausgehen, die für zahlreiche Orte und Regionen Polens die Zahlen der Opfer sowohl von individuellen als auch von Massenmorden ermittelt hat, die per Addition eine Grundlage für zuverlässigere Gesamtangaben sein können.

Doch die im Vorwort von Janusz Kurtyka und Zbigniew Gluza angegebene Gesamtzahl der Todesopfer von 2,77 Millionen (S. 9) fällt weit hinter den Stand des Problembewusstseins zurück, der in den  1990er-Jahren bereits erreicht war. Der Mitherausgeber Szarota stellt gar die mystifizierende Behauptung auf, die bei den NS-Verbrechen meist gegebene Anonymität der Todesopfer hindere daran, deren Zahl genauer zu bestimmen (S. 88).

Die Aufsätze sind in drei Blöcke unterteilt. Den Anfang machen Beiträge zu grundlegenden Gesichtspunkten: zu den globalen Ziffern des Bevölkerungsverlusts in Polen und zu den jüdischen Opfern. In dem nächsten, von Szarota eingeleiteten Block werden jeweils Einzelaspekte der NS-Besatzung behandelt: die Art der Repressionen und die Orte des massenhaften Mordes und anderer Verbrechen (Vertreibung, Verschleppung zur Zwangsarbeit im Reich). Dabei blickt etwa Franciszek Piper auf die Kontroverse um die Neubestimmung der lange Zeit überhöhten Opferzahl im Lagerkomplex Auschwitz-Birkenau zurück, während Andrzej Krzysztof Kunert die Geschichte der Bestimmung der Opferzahl beim Warschauer Aufstand untersucht (laut derzeitigem Forschungsstand zwischen 135.000 und 182.000, S. 184).

Die Mehrzahl der Aufsätze in dem letzten, von Materski eingeleiteten Block betreffen verschiedene Aspekte der Repressionen und Verluste unter den sowjetischen Besatzungen der Jahre 19391941 und 1944/45. Der Bogen spannt sich hier u. a. von den sowjetischen Kriegsverbrechen des Jahres 1939 über die Lage der polnischen Kriegsgefangenen und der 1940/41 ins Landesinnere der UdSSR Deportierten bis hin zur Verfolgung des polnischen Untergrunds in dem eroberten Gebiet zwischen 1944 und 1947.

Leider werden alle diese Einzelergebnisse nicht in Beziehung gesetzt zu den einschneidenden demografischen Veränderungen, welche die Umsiedlung der ehemals polnischen Staatsbürger aus den bis 1939 ostpolnischen Wojewodschaften mit sich brachte. Denn dort verbergen sich die größten Einbußen für das ethnisch polnische Bevölkerungselement. Ihnen zugrunde lag der Nationalitätenwechsel während der Kriegsjahre und in der ersten Phase der Nachkriegsumsiedlungen von 1945 bis 1947 in jenen Bevölkerungskreisen, die in der Frage der Volkszugehörigkeit schwankende Loyalitäten aufwiesen bzw. trotz des Gefühls einer Verbundenheit mit Polen in ihrer nun ukrainisch, weißrussisch oder litauisch gewordenen geografischen Heimat verbleiben wollten, statt in das nach Westen verschobene Staatsgebiet überzusiedeln. Sie bekannten sich nach Kriegsende nicht mehr zur polnischen Volkszugehörigkeit – doch in den Verlustbilanzen werden sie häufig als ein dem Nationalsozialismus anzulastender enormer Bevölkerungsverlust verbucht. Zieht man diese etwa 1,51,7 Millionen Personen von der im Vorwort des Buchs genannten Zahl ab, gelangt man zu einer Größenordnung, die jener der eingangs zuletzt erwähnten Kritiker nahekommt. Daher ist es doppelt schade, dass in diesem Sammelband keiner von ihnen zu Wort kommen darf.

So ist davon auszugehen, dass verlässlichere Berechnungen sich erst mit einer neuen Forschergeneration durchsetzen werden, deren (früher) beruflicher Werdegang mit dem kommunistischen Wissenschaftsbetrieb nicht verquickt ist und die sich den überkommenen Mythen der Volksrepublik nicht mehr verpflichtet fühlt.

Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich über: Polska 1939–1945. Straty osobowe i ofiary represji pod dwiema okupacjami [Polen 1939–1945. Personelle Verluste und Opfer von Repressionen unter den zwei Okkupationen]. Pod red. Wojciecha Materskiego i Tomasza Szaroty. Warszawa: Instytut Pamięci Narodowej (IPN), 2009. 353 S., Tab. ISBN: 978-83-7629-067-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Friedrich_Polska_1939-1945.html (Datum des Seitenbesuchs)

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