Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 62 (2014), 3, S. 441‒445
Verfasst von: Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn
Geoffrey P. Megargee: The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945. Vol. 1: Early Camps, Youth Camps, and Concentration Camps and Subcamps under the SS-Business Administration Main Office (WVHA). Foreword by Elie Wiesel. Bloomington: Indiana University Press, 2009. 1796 S., 192 Abb., 23 Ktn. ISBN: 978-0-253-35328-3.
Geoffrey P. Megargee / Martin Dean: The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945. Vol. 2: Ghettos in German-Occupied Eastern Europe. Introduction by Christopher Browning. Bloomington: Indiana University Press, 2011. 2036 S., 192 Abb., 20 Ktn. ISBN: 978-0-253-35599-7.
The Yad Vashem Encyclopedia of the Ghettos During the Holocaust. Vol. 1 (A–M): LXXVI, 507 S., zahlr. Abb.; Vol. 2 (N–Z): 560 S., zahlr. Abb., DVD. Editor in chief Guy Miron. Co-editor Shlomit Shulhani. Jerusalem: Yad Vashem Publishers, 2009. ISBN: 978-965-308-345-5.
Dan Michman: Angst vor den „Ostjuden“. Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust. Aus dem Englischen übersetzt von Udo Rennert. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch, 2011. 282 S., Abb. = Die Zeit des Nationalsozialismus. ISBN: 978-3-596-18208-4.
Vor nahezu anderthalb Jahrzehnten begann das United States Holocaust Memorial Museum damit, Angaben und Mitteilungen über die Zwangswohnviertel für Juden und die Konzentrations-, Arbeits- und sonstigen Zwangslager zu dokumentieren, welche die Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1945 einrichteten. Aus eher bescheidenen Anfängen erwuchs ein gigantisches, bis 2025 auf sieben Bände angelegtes Publikationsvorhaben, denn die Zahl der nachgewiesenen Einrichtungen dieser Art stieg ständig an. Gingen die Forscher anfangs von 7000 aus, so ist man derzeit bei 42.500 angelangt, darunter 30.000 Zwangsarbeitslager, 1150 Gettos, 980 KZs, 1000 Kriegsgefangenenlager und 500 Bordelle. Die übrigen dienten speziellen Zwecken der NS-Bevölkerungspolitik – dem Mord an Schwachen und Kranken, erzwungenen Abtreibungen, der Eindeutschung von Häftlingen –, oder sie waren Durchgangsstationen auf dem Weg in die Vernichtungslager.
Dem 2009 in zwei Teilen erschienenen ersten Band lassen sich Informationen über 110 frühe und ‚wilde‘ Lager, 23 Hauptlager, die dem Wirtschaftsverwaltungs-Hauptamt der SS unterstanden (darunter Dachau, Buchenwald und Auschwitz), 898 diesen untergeordnete Filiallager, 39 Lager von SS-Baubrigaden und drei sog. Verwahrlager für eingesperrte Kinder und Jugendliche entnehmen. Allein in der größten deutschen Stadt konnten die Forscher am Ende rund 3000 Lager und sog. Judenhäuser ausfindig machen, während in Hamburg 1300 festgestellt wurden. Diese Zahlen widerlegen wieder einmal die Beteuerungen zahlreicher Deutscher in den ersten Nachkriegsjahren, man habe von den Stätten des NS-Unrechtssystems, das zahllose Gruppen von Menschen schon vor Kriegsbeginn einem kalkulierten Massenmord aussetzte, nichts gewusst.
Schon im ersten Band bilden die Lager und Filiallager im besetzten Osteuropa einen Schwerpunkt, darunter in Polen Auschwitz (A: 203–275), Krakau-Plaszow (B: 861–873), Lublin-Majdanek (B: 875–897) und Warschau (B: 1511–151). Aus Danzig wird Stutthof (B: 1419–1489), aus Litauen das Lager Kaunas (A: 847–860), aus Lettland Riga-Kaiserwald (B: 1229–1253) und aus Estland Vaivara (B: 1491–1509) berücksichtigt. Somit lassen sich die Befunde des USHMM gut mit dem vergleichen, was zuletzt in einem deutschen Handbuch zusammengetragen wurde (siehe die betreffenden Abschnitte des neunbändigen Kompendiums Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Hrsg. von Wolfgang Benz und Barbara Distel. München 2005–2009).
Einführungen zu den einzelnen Abschnitten und Hauptlagern geben Auskunft über die historische Entwicklung der jeweiligen Einrichtungen. Zur Kontextualisierung tragen zudem 192 Fotografien und 23 Karten bei. Hinweise auf wichtige Literatur und auf Archivbestände sowie Einzelbelege zu den benutzten Quellen laden zur weiteren Befassung mit dem Thema ein. Drei getrennte Register der Orte, der Personen sowie der Firmen und Organisationen runden das Nachschlagewerk ab.
Der zweite, 2012 von Martin Dean verantwortlich herausgegebene Band über die „Gettos im deutsch besetzten Osteuropa“ verfolgt die antijüdische Gettoisierungspolitik der nationalsozialistischen Machthaber in den polnischen und sowjetischen Gebieten. Eine knappe Gesamteinführung zu den „polnischen Gettos“ (A: XXVI–XXXV) hat Christopher Browning verfasst. Jedem Eintrag folgt der Name der Verfasserin bzw. des Verfassers und der Übersetzer; mehrere Hundert Personen waren als Mitautorinnen und -autoren beteiligt.
Angesprochen werden mehr als 1100 Orte in 19 Verwaltungsbezirken, die jeweils durch eigene Einleitungen vorgestellt werden. Die Orte sind danach aufgeteilt in die in den annektierten westpolnischen Gebieten (Zichenau, Warthegau, Ost-Oberschlesien), im Generalgouvernement (A: 185–854) mit seinen fünf Distrikten und im Distrikt Bialystok (A: 855–987) geschaffenen Einrichtungen. Dem folgen Einträge zu den Lagern in den östlich daran anschließenden Gebieten in der besetzten Sowjetunion – ohne Zweifel der Abschnitt des Lexikons mit dem größten Neuigkeitswert. Hier finden sich auch zahlreiche Orte, die bis 1939 zur polnischen Republik gehört und danach unter sowjetischer Verwaltung gestanden hatten.
Die Einträge zu den Gettos nehmen jeweils Bezug auf außergewöhnliche Vorfälle, die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Tätigkeit von Judenräten, jüdische Reaktionen auf die Verfolgung, die demografische Entwicklung und auf Art und Weise der Vernichtung des Gettos. Sie enthalten zudem Auszüge aus Zeugnissen der Insassen und Zitate aus anderen Quellen, in denen sich der Charakter des betreffenden Zwangswohnviertels widerspiegelt.
Idealerweise sollen die Einträge darüber Auskunft geben, wann und von wem das Lager errichtet wurde und welchem – ursprünglichen und späteren – Zweck es diente, wer die Bewachung und Leitung innehatte, welche Kategorie von Häftlingen gefangen gehalten wurde, welche Art von Arbeit sie gegebenenfalls verrichten mussten und von welchen Unternehmen und Institutionen sie beschäftigt wurden. Zudem interessiert, wie viele Häftlinge sich im Lager aufhielten, wodurch sie zu Tode kamen, welche Interaktionen, welche wiederkehrenden Elemente einer Alltagskultur sich eventuell unter den Gefangenen herausbildeten. Weitere Fragen betreffen besondere Ereignisse wie Widerstandsakte, kollektive oder individuelle Versuche, dem Lager durch Flucht zu entkommen, die Umstände bei der Auflösung, Evakuierung oder Befreiung der Lager und den weiteren Lebensweg der Täter: Wurden sie vor Gericht gestellt und – falls ja – mit welchem Ergebnis verurteilt? Nicht für alle Orte lässt sich dieser Katalog befriedigend abarbeiten, doch enthält die Enzyklopädie allemal weit mehr Informationen als die bisher zugänglichen, meist schon vor Jahrzehnten erschienenen Nachschlagewerke in den Landessprachen der betroffenen Regionen. (Siehe beispielsweise: Obozy hitlerowskie na ziemiach polskich 1939–1945. Informator encyklopedyczny. Hg. v. Czesław Pilichowski [u.a.]. Warszawa 1979.) Künftige Bände der Enzyklopädie werden weitere Orte aufführen bzw. Vorgänge in Osteuropa aufgreifen, etwa im Band über die Kriegsgefangenenlager und über die Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ im besetzten Polen.
Auch die Jerusalemer Gedenk- und Forschungsstätte für die unter dem Nationalsozialismus ermordeten Juden hat nach langjährigen Vorarbeiten ein Lexikon der Gettos im Osten Europas herausgegeben. Es enthält rund 1100 Einträge zu Orten, die seinerzeit von Deutschland und seinen Verbündeten beherrscht wurden und heute in zwölf verschiedenen Staaten liegen. Die Hauptautorinnen und -autoren für die Artikel zu den Gettos in einzelnen Teilgebieten entstammen dem Personal der Forschungseinrichtung. Jeder Buchstabe wird mit einem Zitat aus dem Zeugnis einer oder eines Überlebenden eingeleitet, das mit einem der folgenden Orte in Verbindung steht.
Die Länge der Beiträge ist nach der Größe, Dauer und Wichtigkeit der Gettos gestaffelt, wobei Warschau naturgemäß herausragt und auch Lodz und Theresienstadt ausführlicher abgehandelt werden; nur diese Beiträge sind mit den Namen ihrer Verfasserinnen gezeichnet (Havi Dreifuss, Michal Unger bzw. Ruth Bondi). Im Fall von Minsk beruft sich das Lexikon auf Dan Zhits.
Einträge von etwa 7 Seiten sind Budapest, Kaunas, Krakau, Lemberg, Riga, Sosnowiec oder Wilna gewidmet, und etwas weniger wiederum Białystok, Kielce, Lublin und anderen Städten. In diesen letzteren Fällen enthält der standardisierte Aufbau einen Blick auf die Lage vor Beginn der Besatzung, der manchmal bis 1918 zurückreicht, dann eine Schilderung der Besatzungsherrschaft. Dabei stehen die Reaktionen jüdischer Institutionen und Akteure, die oft namentlich genannt werden, im Mittelpunkt. Der fatale Weg der Opfer über verschiedene Stationen der Entrechtung und Lebensbeschränkung wird bis zur Auslöschung der jeweiligen Jüdischen Gemeinde nachgezeichnet. Schließlich wird – sofern nachweisbar – dem jüdischen Untergrund und Widerstand Rechnung getragen. Die Angaben zur Masse der übrigen, kürzeren Einträge sind dem seit 1969 in vielen Bänden bei Yad Vashem auf Hebräisch erschienenen Sammelwerk Pinkas ha-Kehillot entnommen (Kurzfassung auf Englisch in drei Bd.: The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust. Jerusalem, New York 2001). Die Namen der vor Ort für die Deportationen konkret verantwortlichen Personen finden meist keine Erwähnung.
Das Nachschlagewerk enthält eine „Allgemeine Einleitung“, in der die Herausgeber ihren Untersuchungsgegenstand definieren als „any part of a preexisting settlement occupied by Nazi Germany where Jews were forcibly confined for at least a few weeks“ (S. XL). Es werden auch zahlreiche Einrichtungen dieser Art in Ungarn und Rumänien einbezogen; die Mehrzahl der von den Rumänen in Transnistrien errichteten Gettos ist nach Auffassung der Herausgeber noch nicht genügend erforscht; daher sind ihre Namen nur im Anhang aufgelistet. Dort finden sich zudem Informationen über „Judenhäuser in Germany“ (S. 999–1001) und ein Glossar (S. 1003–1021). Die Auswahlbibliografie enthält neben den englischen u.a. auf Polnisch, Hebräisch und Jiddisch erschienene Studien.
Auf Quellennachweise wird verzichtet, da das reich bebilderte Lexikon sich an ein breiteres Publikum wendet. Vereinzelt wird auf Unsicherheiten in der Überlieferung hingewiesen. Übersichtskarten am Beginn und Schluss der Bände ermöglichen die rasche Lokalisierung einzelner Gettos; einfache, schematische Karten (S. 1030–1035) zeigen die Lage der Orte mit Gettos, bilden jedoch nicht die Grenzen der zeitgenössischen Verwaltungseinheiten ab, denen die Gettos im Text immer zugeordnet werden. Orte im 1939 von der Roten Armee besetzten und dann 1941 von der Wehrmacht eingenommenen Ostpolen sind einige Male falsch lokalisiert: So lagen Prużana und Linowo nicht im Reichskommissariat Ukraine, sondern im sog. Bezirk Bialystok. Ein Personenregister fehlt leider, so dass übergreifende Vorgänge sich hierüber nicht erfassen lassen.
Fotos sind mitunter falschen Kontexten zugeordnet, manchmal die Übersetzungen zu abfotografierten Schriftzügen auch ungenau oder irreführend – auf einem Warschauer Foto heißt es beispielsweise: „Seuchensperrgebiet. Nur Durchfahrt gestattet“, was folgendermaßen erläutert wird: „Typhus. Passage permitted only while traveling“ (nach S. 196).
Die Stärken der „Yad Vashem Encyclopedia“ liegen da, wo es ihr gelingt, den aktuellen israelischen Forschungsstand zu den Gettos zu bündeln. Dieser beruht weitgehend auf Zeugenberichten von Überlebenden und auf den Erinnerungsbüchern der ausgelöschten Gemeinden; die in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten in Osteuropa – der Region, wo sich das Geschehen abspielte – enorm angewachsene historische Forschungsleistung wird nicht immer mit berücksichtigt.
Sehr beeindruckend sind schließlich die mit einem erläuternden Kommentar unterlegten Filmaufnahmen unterschiedlicher Provenienz, die auf einer DVD beigefügt sind. Sie enthalten überwiegend Szenen aus Gettos in Polen – den annektierten westpolnischen Gebieten (Będzin, Brzeziny, Kutno, Płońsk) und dem Generalgouvernement (Krakau, Nowe Miasto nad Pilicą, Nowy Sącz, Tarnów und Warschau) –, daneben einen kurzen Ausschnitt aus Aufnahmen der Propaganda-Kompanien der Wehrmacht aus Mogilev von 1941 und längere Szenen aus dem umfangreichen Filmmaterial über Theresienstadt.
Das Getto-Lexikon enthält einen grundlegenden, vor der „Allgemeinen Einleitung“ platzierten Artikel von Dan Michman, dem Leitenden Historiker von Yad Vashem, über „The Jewish Ghettos under the Nazis and their Allies: the Reasons behind their Emergence“ (S. XIII–XXXIX), der sich mit dem Bedeutungswandel des Getto-Begriffs unter der NS-Herrschaft befasst. Waren damit anfangs die – in Polen schon vor 1939 bestehenden – Judenviertel gemeint, so verstanden die Machthaber seit 1941 unter Getto eher die städtische Version eines Zwangslagers, und 1942 sahen sie es schließlich als Vorstufe zur restlosen physischen Vernichtung seiner Insassen an.
In der seit 2010 auf Englisch (The Emergence of Jewish Ghettos during the Holocaust, Cambridge und New York) und nun auf Deutsch vorliegenden, mit sämtlichen Nachweisen versehenen Version untersucht Michman den Getto-Begriff der Nationalsozialisten eingehend aus linguistischem und kulturgeschichtlichem Blickwinkel. Dazu beschreibt er zunächst den Kenntnisstand zur Herausbildung der Gettos in Standardwerken zum nationalsozialistischen Judenmord und skizziert dann den Ursprung des Begriffs in der Frühneuzeit sowie die Verwendung von Getto und Gettoisierung im europäischen Geistesleben. Nach einem Blick auf die Frage jüdischer Wohnbezirke in NS-Deutschland und den ideologischen Diskurs zwischen 1933 und 1938 wendet er sich dem ersten fundamentalen Bedeutungswandel zu, der auf Peter-Heinz Seraphims voluminöse Dissertation „Das Judentum im osteuropäischen Raum“ von 1938 zurückzuführen ist. Seitdem meinten die maßgeblichen Planer von der SS mit Getto die – in Polen schon vor 1939 bestehenden – Stadtviertel, in denen mehrheitlich Juden wohnten und deren Alltagsleben von der jüdischen Religion geprägt war. Dorthin sollte, wie der angehende Chef des Reichssicherheitshauptamts Heydrich drei Wochen nach Kriegsbeginn anordnete, die jüdische Landbevölkerung im eroberten Raum vertrieben werden; wie dies zu geschehen hatte, blieb den Machthabern im jeweiligen Gebiet überlassen. Die meisten Gettos im Generalgouvernement wurden aber erst 1941 eingerichtet, lange nach Einsetzung der Judenräte. Michman begründet dies damit, dass es hier zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschiedene Typen von Gettos mit jeweils spezifischen Funktionen gab. So sollten die ersten Gettos dazu beitragen, die in den Augen der Eroberer durch die Ostjuden gegebene existenzielle Bedrohung (Seuchengefahr, widerständiger ökonomischer und intellektueller Einfluss der Juden auf die einheimischen Nicht-Juden) zu verringern. Später verstanden die Machthaber unter Getto zunehmend die städtische Version eines Zwangslagers, das die Juden daran hindern sollte, sich Ressourcen zu verschaffen, die allein für die deutschen Kriegsanstrengungen vorgesehen waren. Sie dienten nun der Behebung von immer wieder neuen Sachzwängen, die die Besatzer mit ihrer rabiaten Bevölkerungs- und rücksichtslosen Lebensraum-Politik erst schufen. Unter strenger Aufsicht deutscher Behörden und meist von Judenräten geleitet, hatten die Gettos die jüdische Bevölkerung zu isolieren, bis die Pläne für ihre Vertreibung – 1939 in ein „Reservat“ im Generalgouvernement, 1940 nach Madagaskar – verwirklicht würden. Zu einer großen Welle von Gettogründungen kam es im Frühjahr 1941, als beim Aufmarsch an der Grenze zur Sowjetunion zahlreiche Polen zunächst der Unterbringung von Wehrmachtseinheiten weichen mussten, ehe sie in den Wohnungen gettoisierter Juden einquartiert wurden. Zwischen Mitte 1941 und Mitte 1942 richteten die Eroberer in der Sowjetunion hunderte solcher Elendsviertel als Vorstufe zur restlosen physischen Vernichtung ihrer Insassen ein. Mit dieser Art Getto – einem Sammellager, aus dem die Opfer für die Deportationen in die Vernichtungslager und für Massenerschießungen abgeholt wurden –, endete im Herbst 1942 im Generalgouvernement, wo der Großteil der Jüdischen Gemeinden mittlerweile vernichtet worden war, die „Aktion Reinhardt“.
Die Einrichtung von Gettos sollte jedoch – bis Mitte 1941 – keineswegs eine Station auf dem Weg zur totalen Auslöschung der Gemeinden sein. Sie war vielmehr Ausdruck von Zögerlichkeit und Ratlosigkeit. Der vorletzte Aufenthaltsort auf dem Weg zur planmäßigen Ermordung wurden die Gettos erst mit Hitlers Entschluss vom Sommer 1941, der den Weg zum Endziel wies: die Juden im deutschen Machtbereich umzubringen. Um diesen Auftrag ins Werk zu setzen, waren Gettos aber nicht unbedingt notwendig, und so hatte ein großer Teil der ermordeten Juden nie in einem nationalsozialistischen Getto gewohnt.
Der mit seiner Masse an Informationen ungeheure Umfang des Projekts am United States Holocaust Memorial Museum verdeutlicht, dass das Geschehen in den Zwangslagern und Gettos beim nationalsozialistischen Welteroberungskampf nicht bloß einen vergleichsweise unbedeutenden Nebenschauplatz einnahm. Diese Einrichtungen waren für die Art der deutschen Kriegführung vielmehr konstitutiv, die dort praktizierte äußerste Brutalität sollte den Endsieg erringen helfen, indem die Juden großteils konzentriert, isoliert und unter mörderischen Bedingungen zur Arbeit gezwungen wurden; auch Millionen übrige Osteuropäer versklavten die deutschen Eroberer für die Rüstungsproduktion und andere Vorhaben. All diese Vorgänge stehen damit in engem Zusammenhang mit Hitlers Forderung vom Oktober 1939 nach einer gewaltsamen ethnografischen Neuordnung. Bezog sie sich zunächst auf den Grenzraum zwischen Deutschland und Polen, so griff sie 1941 ins Kontinentale aus. Und damit stellten nicht mehr politische Gegner – wie seit 1933 – das Gros der Gefangenen, sondern als minderwertige Rassen oder Nationen Definierte: Juden, Russen, Polen sowie Sinti und Roma.
Ohne Zweifel ist es das Verdienst besonders der „Encyclopedia of Camps and Ghettos“, dies mit ihren ersten beiden Bänden eindrucksvoll verdeutlicht zu haben. Mit ihr ist ein hervorragend recherchiertes, unverzichtbares Nachschlagewerk über die Zerstörung und Vernichtung der Jüdischen Gemeinden in Osteuropa entstanden. Da die Lexika maßgeblich durch Gelder der „Conference on Jewish Material Claims Against Germany“ gefördert wurden, erscheint es verwunderlich, dass sie im Sinn der Informationsfreiheit im Netz bislang nicht allgemein zugänglich gemacht worden sind. Die Förderung durch quasi öffentliche und Stiftungsgelder sollte strenger an die Bedingung geknüpft werden, neue Erkenntnisse von allgemeinem Interesse auch jenen zur Verfügung zu stellen, die keine gut sortierte Bibliothek im näheren Umkreis haben. Die von Gershon David Hundert herausgegebene „YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe“ (New Haven 2008) hat zuletzt vorgeführt, wie es sehr wohl möglich ist, aufwändige Buchpublikationen mit deren breiter Verfügbarkeit im Netz zu verbinden (http://www.yivoencyclopedia.org). Daran sollten sich ähnliche Forschungsvorhaben messen lassen.
Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn über: Geoffrey P. Megargee: The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945. Vol. 1: Early Camps, Youth Camps, and Concentration Camps and Subcamps under the SS-Business Administration Main Office (WVHA). Foreword by Elie Wiesel. Bloomington: Indiana University Press, 2009. 1796 S., 192 Abb., 23 Ktn. ISBN: 978-0-253-35328-3. Geoffrey P. Megargee / Martin Dean: The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945. Vol. 2: Ghettos in German-Occupied Eastern Europe. Introduction by Christopher Browning. Bloomington: Indiana University Press, 2011. 2036 S., 192 Abb., 20 Ktn. ISBN: 978-0-253-35599-7. The Yad Vashem Encyclopedia of the Ghettos During the Holocaust. Vol. 1 (A–M): LXXVI, 507 S., zahlr. Abb.; Vol. 2 (N–Z): 560 S., zahlr. Abb., DVD. Editor in chief Guy Miron. Co-editor Shlomit Shulhani. Jerusalem: Yad Vashem Publishers, 2009. ISBN: 978-965-308-345-5. Dan Michman: Angst vor den „Ostjuden“. Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust. Aus dem Englischen übersetzt von Udo Rennert. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch, 2011. 282 S., Abb. = Die Zeit des Nationalsozialismus. ISBN: 978-3-596-18208-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Friedrich_SR_Holocaust_Ghettos_und_Lager.html (Datum des Seitenbesuchs)
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