Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Klaus-Peter Friedrich

 

Danuta Olesiuk (ed.) Letters from Majdanek. KL Lublin in the light of secret messages – exhibition catalogue. Lublin: Państwowe Muzeum na Maj­danku, 2008. 60 S. (ohne Sei­ten­zäh­lung), Abb. ISBN: –.

Tomasz Kranz Die Vernichtung der Juden im Kon­zentrationslager Majdanek. Übers. von Christ­hardt Henschel. Lublin: Państwowe Muzeum na Maj­danku, 2007. 88 S., 40 Abb. ISBN: 978-83-925187-1-6.

Tomasz Kranz Zur Erfassung der Häftlingssterblichkeit im Konzentrationslager Lublin. Übers. von Christhardt Henschel. Lublin: Państwowe Muzeum na Maj­danku, 2007. 127 S., 40 Abb., Tab. ISBN: 978-83-916500-9-7.

Piotr Weiser (wstęp) Patrzyłam na usta … Dzien­nik z warszawskiego getta [Ich schau­te auf den Mund … Tagebuch aus dem War­schauer Getto]. Kraków: Wy­dawn. Homini, 2008. XXIII, 173 S., Abb. ISBN: 978-83-89598-57-8.

Der Ausstellungskatalog „Letters from Majda­nek“ des Staatlichen Museums Majdanek stellt von Häftlingen des Konzentrationslagers Lublin geschriebene schriftliche Mitteilungen vor, die heimlich nach draußen geschmuggelt wurden. Sie entstammen dem Zeitraum zwischen Februar 1943 und April 1944 und sind alle auf Polnisch verfasst. Diese Auswahl liegt nun auch in einer – mitunter schwerfälligen – englischen Über­setzung vor (das polnische Original er­schien ebenfalls im Jahr 2008 unter dem Titel „Listy z Majdanka. KL Lublin w świetle gryp­sów“).

Das Lager, für das sich im landläufigen Sprachgebrauch der Name Majdanek durchsetzte, unterstand dem früheren Gauleiter von Wien, Odilo Globocnik (oder Globotschnig[g]), den Himmler 1939 zum SS- und Polizeiführer im Distrikt Lublin des Generalgouvernements ernannt hatte. Er gründete sein Regime auf Terror, Repression und Massenmord an der einheimischen und insbesondere der jüdischen Bevölkerung. An der östlichen Stadtgrenze Lublins und in angrenzenden Dörfern ließ er auf einem riesigen Areal ein Konzentrationslager für Zehntausende Häftlinge anlegen. Während das Lager noch bis Februar 1943 als „Kriegsgefangenenlager der Waffen-SS Lublin“ firmierte, wurden im Oktober 1941 2000 jüdische Gefangene und im Frühjahr 1942 noch einmal mehrere Tausend Juden aus Polen (u.a. aus dem Lubliner Getto), der Slowakei und anderen Ländern eingeliefert und zum großen Teil durch Giftgas ermordet. Im Frühjahr 1943 kamen über 10.000 Juden aus Warschau, später kleinere Gruppen aus Griechenland und aus dem Bezirk Białystok nach Majdanek. Lagerkommandant war 1942/43 Hermann Florstedt, der 1945 in einem SS-internen Verfahren wegen Mordes und Korruption zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Anfang 1943 erleichterte sich das Los der Lagerinsassen, da der polnische Hauptfürsorgerat (Rada Główna Opiekuńcza) und das Polnische Rote Kreuz nun Hilfspakete zustellen konnte und die Häftlinge zwei Mal im Monat Postkarten verschicken durften. An der Zensur vorbeigeleitet wurden jedoch die zahlreichen Nachrichten aus dem und in das Lager, die den Adressaten meist durch polnische Zivilarbeiter überbracht wurden.

Den faksimilierten und transkribierten Auszügen aus den Briefen, die sich fast ausschließlich auf die ethnisch polnische Bevölkerung beziehen, sind Porträtfotos der Verfasser(innen) und knappe biographische Angaben beigefügt. Die meisten Mitteilungen sind privater Natur und richten sich an die Nächsten; manche bitten darin verzweifelt um Hilfe. Einzelne Schreiben beinhalten Nachrichten an Kontaktpersonen des Widerstands außerhalb des Lagers – der Nachrichtendienst der Armia Krajowa (Heimatarmee) nutzte die Kassiber 1943 für seine aktuellen Lagemeldungen über das Lager. Darunter sind auch Aussagen über die jüdischen Opfer.

In den letzten Jahren sind neue Darstellungen zu den nationalsozialistischen Vernichtungszentren Bełżec und Chełmno / Kulm­hof im deutsch besetzten Polen erschienen. Das Konzentrations- und Vernichtungslager am Stadtrand von Lublin, dem bei der „Aktion Reinhardt“ 1942/43 eine besondere Rolle zukam, wurde ebenfalls mit einer Monographie bedacht (Barbara Schwindt Das Konzentrations- und Ver­nichtungslager Majdanek. Funktions­wandel im Kontext der „Endlösung“. Würzburg 2005). Die neuesten Erkenntnisse fasst nun Tomasz Kranz, derzeit Direktor des Staatlichen Museums Majdanek, in einer auch ins Deutsche übersetzten Publikation zusammen (in einer kürzeren Fassung zuerst veröffentlicht unter dem Titel Eksterminacja Żydów na Majdanku i rola obozu w realizacji „Aktion Rein­hardt“, in: Ze­szy­ty Majdanka 22 [2003] S. 7–55). Er geht zunächst auf die Pläne zur Ausbeutung der jüdischen Arbeitskraft ein, zeichnet dann die Transporte von Juden in das Lager nach und beschreibt schließlich dessen Funktion im Rahmen einer immer weiter ausgreifenden antijüdischen Politik: als Zwangsarbeitslager, als Sammelort und Ver­teilstelle für jüdische Arbeitskräfte und für das geraubte jüdische Eigentum sowie als Stätte der physischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Letztere schildert Kranz anhand der Geschichte der Gaskammern, der Selektionen, des Tötungsprozesses durch Giftgas („Die Vergasung“) sowie des – von der SS als „Erntefest“ bezeichneten – Massenmordes an 17.000–18.000 noch verbliebenen jüdischen Häftlingen Anfang November 1943. Somit liegt das Verdienst von Kranz hier darin, dass er die Aufgaben des Lagers bei der nationalsozialistischen Judenverfolgung genauer beschrieben hat, als dies zuvor geschehen war.

In dem abschließenden Abschnitt über die Zahl der Opfer kann Kranz belegen, dass etwa 59.000 Juden (von insgesamt 78.000) im Lager Majdanek ermordet wurden bzw. dort gestorben sind. Bei den Umgekommenen handelt es sich ganz überwiegend um Juden aus Polen; nur von einigen Tausend sind die Namen bekannt, da die Lagerakten 1944 vernichtet wurden. Der Verfasser stützt sich hier u. a. auf das erst vor wenigen Jahren in seinem Quellenwert erkannte sog. Höfle-Telegramm – einen Funkspruch, den Hermann Höfle, der von Globocnik beauftragte faktische Leiter der „Aktion Reinhardt“, am 11. Januar 1943 an den stellvertretenden Befehlshaber der Sicherheitspolizei im Generalgouvernement, Franz Heim, nach Krakau senden ließ. Da er von den Briten abgefangen wurde, hat er sich in den National Archives (Public Record Office) erhalten. Aus ihm geht hervor, dass in Lublin 1942 genau 24.733 Juden starben (Peter Witte / Ste­phen Tyas A New Document on the Deport­ation and Murder of Jews during „Einsatz Reinhardt“ 1942, in: Holocaust and Genocide Studies 15 [2001] S. 468–486, das Dokument auf S. 469; siehe auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:Hoefletelegram.jpg). Die in der Forschungsliteratur mitunter auftauchenden jüdischen Opferzahlen von 110.000 (von insgesamt 235.000) sind demnach überhöht. Die Dimension des Völkermords hatte hier deutlich geringere Ausmaße als in den ausgesprochenen Vernichtungslagern Treblinka, Bełżec, Sobibór und Chełmno / Kulm­hof.

Der Band enthält im Anhang 40 dokumentarische Abbildungen – von Luftaufnahmen des Lagerareals über Schriftstücke aus der Lagerverwaltung bis hin zu Auszügen aus Berichten von Häftlingen und Meldungen der polnischen Widerstandsbewegung über das Konzentrationslager Lublin; unverständlicherweise fehlen hier stets die entsprechenden Archivnachweise und -signaturen.

Wie Kranz zu der Neuberechnung der Opferzahl gekommen ist, hat er in seiner Abhandlung „Zur Erfassung der Häftlingssterblichkeit im Konzentrationslager Lublin“ ausführlich dargelegt (in einer kürzeren Fassung zuerst veröffentlicht unter dem Titel Ewidencja zgonów i śmier­telność wię­żniów KL Lublin, in: Zeszyty Maj­dan­ka 23 [2005] S. 7–53; siehe auch Tomasz Kranz Die Erfassung der Todesfälle und die Häftlingssterblichkeit im KZ Lublin, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 55 [2007] S. 220–244.). Er geht hier von den Belegstärken aus, die sich für 1942/43 aus der überlieferten Lagerdokumentation und den Funksprüchen ermitteln lassen, die von der lagereigenen Station versendet wurden. Die Berliner Zentralstellen hatten bekanntlich ein großes Interesse an genauen Angaben über die steigende Zahl der ermordeten Juden: Im März 1943 flossen sie in den Gesamtbericht des SS-Statistikers Dr. Richard Korherr ein. Himmler ließ es sich nicht nehmen, dessen Bilanz einige Wochen später Hitler persönlich zu präsentieren.

In einem zweiten Schritt analysiert Kranz die Todesfälle unter den Lagerhäftlingen und verortet die dazu vorliegenden Informationen im Zusammenhang mit der Überlieferung und der Forschungsliteratur, in der die Opferzahlen je nach Autor sehr divergieren. Zu einem ähnlichen Ergebnis wie Kranz war in Deutschland Wolfgang Scheffler gelangt, der 1975 im Maj­danek-Prozess vor dem Düsseldorfer Landgericht als Gutachter auftrat – woran Kranz erinnert (S. 54). Der Band enthält im Anhang 40 Faksimile-Abbildungen von Schriftstücken aus dem Archiv des Staatlichen Museums Majda­nek, welche die Dokumentation aus dem Katalog und aus seiner Publikation „Die Vernichtung der Juden im Konzentrationslager Majda­nek“ ergänzen; auch diesmal werden keine Sig­naturen angegeben.

Wie der Verfasser in seiner Schrift „Die Vernichtung der Juden im Konzentrationslager Majdanek“ feststellt, wurden im April und Mai 1943 nahezu 40.000 Insassen aus dem Warschauer Getto in den Distrikt Lublin deportiert, wo sie vorerst ihre Arbeit für die deutsche Kriegswirtschaft fortsetzen sollten (S. 19). Die meisten gelangten nach Trawniki und Poniatowa, Tausende aber auch nach Majdanek.

Das Lager war wahrscheinlich der letzte Aufenthaltsort im Leben einer Tagebuchschreiberin, die uns bislang nur durch ihren polnischen Vornamen Maryla bekannt ist. Noch ehe sie ums Leben kam, gelang es ihr, auf dem Bauhof des Lagers ihr Manuskript zu verstecken. Später wurde es gefunden, und heute befindet es sich im Archiv des Museums. Piotr Weiser hat es ediert und unter den Anfangsworten eines noch lesbaren Textteils mit den Notizen vom 27. März bis April 1943 – „Patrzyłam na usta …“ („Ich schaute auf den Mund …“) – herausgegeben; ein anderer Teil ging durch Brandeinwirkung verloren oder ist nur in Fragmenten entzifferbar.

Maryla war eine junge Frau, die den Beginn des Warschauer Getto-Aufstands miterlebt hatte. In ihrem auf Polnisch niedergeschriebenen Tagebuch schildert sie ihre Arbeit in einem Betrieb der Firma Többens. Hoffnung für ihren starken Wunsch zu überleben bezog sie zu dieser Zeit aus Gerüchten um Vittel, die Stadt im Osten Frankreichs, wohin Warschauer Juden transportiert worden waren, die Pässe lateinamerikanischer Staaten erworben hatten. Hörensagen brachte ihr andererseits die Nachricht, dass Himmler entschieden hatte, Warschau zu „entjuden“ (odżydzić) (S. 46–48). Die Chancen, auf der „arischen Seite“ Warschaus zu überdauern, sah sie wegen des Treibens von organisierten Erpressern (szmalcownicy) als sehr gering an. Sie kannte selbst eine Reihe von Leuten, die es versucht hatten – aber kurz darauf niedergeschlagen und ohne einen Pfennig in der Tasche zurückgekehrt waren (S. 59, 61). „Die Polen“, schreibt sie, „haben sich mit einer dicken Mauer von Gleichgültigkeit umgeben, und den überwiegenden Teil bekümmert die grausige Tragödie, die wir durchlebt haben, ganz und gar nicht. […] Das Leben eines Juden wird zur Ware, die man erwirbt und mit der man Handel treibt. Nach kurzer Zeit wird der im Versteck lebende Jude zu einer unnützen Last, und dann, all seiner Wertsachen entledigt, wird er der Gestapo übergeben […]“ (S. 61–63). Von Treblinka hatte Maryla durch Flüchtlinge erfahren, die nach Warschau zurückgekehrt waren. Wenige Tage vor dem Beginn des Aufstands notiert sie: „Die jüdische Frage, über die so viel nachgedacht und die in Tausenden von Diskussionen in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt, die von Tausenden der berühmtesten Gelehrten analysiert wurde, hat gegenwärtig aufgehört zu bestehen. Hitler hat sie schnell und radikal gelöst – er hat die Juden vernichtet“ (S. 97–99).

Die meisten Gettoinsassen suchten zu Beginn der Kämpfe Schutz in unterirdischen Räumen, die bald überfüllt waren. Maryla resümiert nach einigen Tagen in ständiger Angst und Anspannung am Rande des Nervenzusammenbruchs: „[W]ir hö­ren auf, Menschen zu sein“ (przestajemy być ludźmi, S. 125). Doch belegt gerade ihr Zeugnis, dass trotz des menschlichen Ausnahmezustands, den der Nationalsozialismus den Verfolgten aufzwang, das Reflektieren über die eigene Lage nicht abriss.

Auch der Ausstellungskatalog enthält Beispiele für solidarisches humanitäres und politisches Engagement, das dem Lagerregime entgegengesetzt wurde. Unabhängig davon, wie die Nachgeborenen dieses Erbe für sich nutzbar machen, ist es überaus wichtig, Unklarheiten auszuräumen. Die neuen Zahlenangaben über das Lager Majdanek zeigen, dass auch Jahrzehnte nach den Geschehnissen erhebliche Korrekturen sich als notwendig erweisen und über Jahrzehnte als gültig erachtete Befunde präzisiert werden müssen.

Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich über: Danuta Olesiuk (ed.) Letters from Majdanek. KL Lublin in the light of secret messages – exhibition catalogue. Państwowe Muzeum na Majdanku Lublin 2008. ISBN: –; Tomasz Kranz Die Vernichtung der Juden im Konzentrationslager Majdanek. Übers. von Christhardt Henschel. Państwowe Muzeum na Majdanku Lublin 2007. ISBN: 978-83-925187-1-6; Tomasz Kranz Zur Erfassung der Häftlingssterblichkeit im Konzentrationslager Lublin. Übers. von Christhardt Henschel. Państwowe Muzeum na Majdanku Lublin 2007. ISBN: 978-83-916500-9-7; Piotr Weiser (wstęp) Patrzyłam na usta … . Dziennik z warszawskiego getta [Ich schaute auf den Mund ... . Tagebuch aus dem Warschauer Getto]. Wydawn. Homini Kraków 2008. XXIII, ISBN: 978-83-89598-57-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Friedrich_SR_Olesiuk_Kranz_Weiser.html (Datum des Seitenbesuchs)

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