Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Ausgabe: 59 (2011) H. 1
Verfasst von:Andreas Fülberth
Arnold Bartetzky, Marina Dmitrieva, Alfrun Kliems (Hrsg.) Imaginationen des Urbanen. Konzeption, Reflexion und Fiktion von Stadt in Mittel- und Osteuropa. Berlin: Lukas Verlag, 2009. 332 S., 76 s/w-Abb., 44 Farbabb. ISBN: 978-3-86732-022-1.
Sämtlichen „Imaginationen des Urbanen“, die der gleichnamige Sammelband über „Konzeption, Reflexion und Fiktion von Stadt in Mittel- und Osteuropa“ vorstellt, ist gemein, dass sie auf die Epoche des Sozialismus fokussiert sind oder sie zumindest einbeziehen. Letzteres ist selbst bei Eva Binders Blick auf Filme vom „Drehort Moskau“ aus der Zeit nach 1990 indirekt der Fall; typisch für den Band sind jedoch vor allem Themen wie die frühe Schaffensperiode Bohumil Hrabals, der sich Xavier Galmiche zuwendet, oder „Prag im Wandel der Medien“, wie der Beitrag von Alfrun Kliems betitelt ist.
Rudolf Jaworskis einführende Beschreibung der „Städte Ostmitteleuropas als Speicher des kollektiven Gedächtnisses“ enthält ein klares Plädoyer, vermehrt über Klein- und Mittelstädte zu forschen, statt nur Großstädten Relevanz beizumessen. Konsequent erscheint es insofern, dass zu diesem Beitrag auf Illustrationen verzichtet wurde, obwohl ansonsten die exzellente Bebilderung gerade zu den Hauptmerkmalen des Bandes gehört. Ohne Bildmaterial kommen neben Jaworskis Ausführungen lediglich drei weitere Beiträge aus, nämlich Gábor Gelencsérs Befunde zum „Motiv der Wohnsiedlung im ungarischen Film“, Anne Cornelia Kennewegs Analyse der „Belgrad-Imaginationen“ des Dichters Vladimir Pištalo sowie Jacek Friedrichs Betrachtung von „Modernitätsbegriff und Modernitätspropaganda im polnischen Architekturdiskurs der Jahre 1945–1949“.
Wie brillant Bildauswahl und Text aufeinander bezogen sein können, verdeutlichen derweil die Aufnahmen von Bratislava und Košice, die dem (auf englisch bereits anderweitig publizierten) Beitrag „Vom Vorführungsraum zum Begegnungsort. Die Stadt im Sozialismus und danach“ von Miroslav Marcelli beigefügt sind. Gewissermaßen einen Glücksfall bildet die hohe Qualität des Anschauungsmaterials sodann auch bei Arnold Bartetzky, der unter dem Titel „Stadtplanung als Glücksverheißung“ einen Vergleich der „Propaganda für den Wiederaufbau Warschaus und Ost-Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg“ zieht. Als facettenreich erweist diese Thematik sich schon deshalb, weil der Wiederaufbau der polnischen Hauptstadt über die Staatsgrenzen hinaus als etwas, dem es nachzueifern galt, inszeniert wurde und weil seine Popularisierung im Inland nicht zuletzt durch Lieder erfolgte.
Den Text eines Liedes ganz nach dem Geschmack einer sozialistischen Staatsmacht und zum Ruhme eines deren Geschmack repräsentierenden Ortes zitiert auch Paul Sigel im Zuge einer „Spurensuche am Alexanderplatz“. Diese ist zwar auch überwiegend, aber keineswegs ausschließlich bauhistorisch angelegt; und die städtebaubezogenen Erläuterungen dienen in Sigels Text primär dazu, das nach 1990 kultivierte Negativimage des „Alex“ zu relativieren.
Marina Dmitrieva behandelt den als „sozialistischer Klassizismus“ Stein gewordenen „Traum vom Wolkenkratzer“ und grenzt ein, in welchem Ausmaß die, die ihn träumten, amerikanische Vorbilder verarbeiteten. Sie blickt nicht nur auf Moskauer Vertreter jenes Gebäudetyps, sondern ebenso auf diejenigen in Warschau und Bukarest. Laut Dmitrieva begegnet man in Warschau, was den Umgang mit der Dominanz des dortigen Kulturpalastes im Stadtbild anbetrifft, derzeit teilweise einer „aufgesetzten Wissenschaftlichkeit“ (S. 150).
Was Andreas Guski unter dem Stichwort „Agoraphilie“ über Plätze „als Stadtraum in der Sowjetkultur“ zusammenträgt, macht bewusst, dass die erst im postsowjetischen Zeitalter möglich gewordene „Versöhnung von Platz und Markt“ (S. 221) für die Plätze Moskaus nicht den einzigen scharfen Funktionswandel seit 1917 darstellt; vielmehr bedeutete schon die Puritanisierung der Platzflächen, die auf deren Nutzung als Bühne der Revolution folgte, eine ähnlich radikale Umfunktionalisierung.
Gegenstand des Beitrags von Tímea Kovács ist das Licht im nächtlichen Budapest des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum steht dabei nicht das Anstrahlen von Sehenswürdigkeiten, sondern der Symbolwert der Leuchtreklamen: Als Ausdruck des Ehrgeizes, Haupt- und zugleich Weltstadt zu sein, spielten diese während der ersten Jahrhunderthälfte eine große Rolle; doch auch das kommunistische Regime bediente sich ihrer – wenngleich mit weniger Geschick.
Ob die versammelten Themen nicht eigentlich längst durch zahlreiche andere Publikationen erschlossen waren, lässt sich von Text zu Text unterschiedlich beurteilen, doch kommt es hierauf bei dem vorliegenden Band letztlich nicht entscheidend an. Dass manchen der porträtierten Gebäude und Plätze (Warschaus Kulturpalast oder dem Alexanderplatz etwa) bereits für sich allein ganze Sammelbände gewidmet wurden, ist vielmehr als Teil seines Informationsgehalts zu verstehen. Ihren Reiz beziehen die einzelnen Aufsätze somit vornehmlich aus ihrer jeweiligen Art und Weise, Faktenlagen – wie geläufig oder neu diese auch immer sein mögen – zu interpretieren. Dem interdisziplinären Konzept, das die Herausgeber dem Band zugrunde legten, trugen dabei erfreulicherweise sämtliche Autorinnen und Autoren Rechnung, so dass es nun auch tatsächlich dessen Innovativität ausmacht.
Andreas Fülberth, Kiel
Zitierweise: Andreas Fülberth über: Arnold Bartetzky, Marina Dmitrieva, Alfrun Kliems (Hrsg.) Imaginationen des Urbanen. Konzeption, Reflexion und Fiktion von Stadt in Mittel- und Osteuropa. Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte Berlin 2009. ISBN: 978-3-86732-022-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Fuelberth_Bartetzky_Imaginationen_des_Urbanen.html (Datum des Seitenbesuchs)
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