Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 152-153

Verfasst von: Jörg Ganzenmüller

 

Tanja Penter Kohle für Hitler und Stalin. Arbeiten und Leben im Donbass 1929 bis 1953, Essen: Klartext 2010, 467 S., 34 Tab., 7 Abb. = Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe C: Arbeitseinsatz und Zwangsarbeit im Bergbau, 8. ISBN: 978-3-8375-0019-6.

Die deutsche Besatzungsherrschaft in der Sowjetunion ging mit einer wirtschaftlichen Ausbeutung der eroberten Gebiete einher. 21 Millionen sowjetische Staatsangehörige arbeiteten auf 43.000 Kolchosen, 3.729 Staatsgütern und 1,8 Millionen Einzelwirtschaften für die deutsche Kriegswirtschaft. Allein im Donbass, dem zentralen Kohlerevier der Sowjetunion, waren 114 Betriebe mit 55.751 Beschäftigten für die deutschen Besatzer tätig. Bemerkenswert ist, dass die Förderleistung pro Arbeiter im Frühjahr 1943 höher war als in der Vorkriegszeit, obwohl sich die Produktionsbedingungen aufgrund der Zerstörungen durch die abziehende Rote Armee und eines steten Mangels an Maschinen und Material deutlich verschlechtert hatten. Tanja Penter geht in ihrer Bochumer Habilitationsschrift der Frage nach, woraus sich die allgemeine Bereitschaft speiste, mit den Deutschen zusammenzuarbeiten. Indem sie nach Loyalitäten fragt, überwindet sie die heuristische Sackgasse, in der sich die bisherige Forschung durch eine klare Trennung von Kollaboration und Widerstand befand. Deutlich wird, dass es im Krieg nicht nur zu Loyalitätswechseln kam, sondern auch, wie sich die Menschen durch multiple Loyalitäten einer eindeutigen Parteinahme überwiegend entzogen. Die Wehrmacht fand im Donbass keinen politischen Antikommunismus vor, sondern vielmehr eine brüchige Loyalität zum Regime Stalins, die in erster Linie durch die Verminung und Sprengung der Bergwerke durch die abziehende Rote Armee erschüttert worden war. Die Bergleute hatten sich gegen diese Anordnung des Staatlichen Verteidigungskomitees zur Wehr gesetzt, doch der NKVD ging mit aller Härte gegen widerständige Arbeiter vor. Die Zivilbevölkerung sah sich ihrer Lebensgrundlage beraubt und fühlte sich von den abziehenden Truppen und Funktionären im Stich gelassen.

Erst vor dem Hintergrund dieser unmittelbaren Kriegserfahrung wird verständlich, dass den deutschen Besatzern die Hoffnung entgegengebracht wurde, die Bergwerke wieder in Betrieb zu nehmen. Zunächst erfüllten die Deutschen auch die in sie gesetzten Erwartungen, zumal sie die Belegschaften nahezu vollständig übernahmen. Man war insbesondere auf die Kenntnisse der Ingenieure angewiesen, da die sowjetische Betriebsleitung alle Grubenbilder und Pläne mitgenommen hatte. Die Ingenieure kooperierten bereitwillig. Sie stellten nicht nur ihr Fachwissen zur Verfügung, sondern halfen auch bei der Rekrutierung von Arbeitskräften und der „Aussonderung von Juden und Kommunisten“. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit speiste sich zudem aus den Erfahrungen der Vorkriegszeit. Das Verhältnis zwischen Arbeitern und Ingenieuren war seit jeher von sozialen Konflikten geprägt gewesen. Während die akademisch geschulten Ingenieure ein hohes Standesbewusstsein pflegten, hielten sich die unter Tage schuftenden Arbeiter selbst für die Avantgarde des Bergbaus und misstrauten jenen, die sich die Hände selbst nicht schmutzig machten. Der Schauprozess gegen die Leitung der Kohlegruben von Šachty hatte jedoch 1928 zu einer allgemeinen Umkehr der sozialen Hierarchie geführt. Die Arbeiter nutzten nun die Möglichkeit, die vorgeblichen „alten Eliten“ mit Hilfe des Sabotagevorwurfes an den Pranger zu stellen und staatlicher Verfolgung preiszugeben. Indem die Deutschen den Ingenieuren ihre althergebrachte soziale Stellung wieder zurückgaben, sicherten sie sich deren Loyalität.

Die rücksichtslose Ausbeutung der Arbeitskraft und das brutale deutsche Besatzungsregime, das durch seine Hungerpolitik insbesondere die städtische Bevölkerung in größte Not stürzte, führten allerdings bald zu einer allseitigen Ernüchterung. Dennoch brach die Kohleförderung nicht zusammen. Eine Erklärung für den ausbleibenden Widerstand sieht Tanja Penter in den Erfahrungen der dreißiger Jahre. Die Bergarbeiter kannten ein Leben in katastrophalen Wohnverhältnissen ebenso wie die schwierige Lebensmittelversorgung in einer Mangelwirtschaft. Schon in den dreißiger Jahren hatte sich die Arbeitsdisziplin verschärft und waren die Eliten einer brutalen Herrschaft ausgesetzt gewesen, die überall Verschwörungen und Sabotage witterte. Viele erfuhren die deutsche Besatzungsherrschaft somit als Fortsetzung eines beschwerlichen Alltags, zumal sich die Methoden der Überwachung und Leistungssteigerung kaum von denen der Vorkriegszeit unterschieden. Auch die Deutschen instrumentalisierten den Mangel und gewährten Zulagen bei der Lebensmittelration als Arbeitsprämie; sie erzeugten durch öffentliche Belobigungen und schwarze Bretter Druck auf die Arbeiter und erwogen sogar die Wiedereinführung der Stachanovbewegung. Die Arbeiter wiederum entzogen sich diesen Anforderungen mit den Verweigerungsstrategien aus der Vorkriegszeit: durch Blaumachen, Bummelei und Störungen des Arbeitsablaufes durch die Beschädigung von Maschinen.

Es ist eine Stärke der Arbeit, dass Tanja Penter den vielfach betonten Zäsurcharakter der Jahre 1941 und 1945 aufbricht und den deutsch-sowjetischen Krieg nicht als eine Ausnahmesituation deutet. Stattdessen integriert sie die Kriegszeit in die Geschichte des Stalinismus und öffnet so den Blick für Kontinuitäten sowohl zu den Vorkriegsjahren als auch zur Nachkriegszeit. So zeigt sie auf eindringliche Art und Weise, wie die Erfahrungen der dreißiger Jahre und des Krieges die Verhaltensweisen in der Nachkriegszeit prägten. Als der Stalinismus nach dem Abzug der Deutschen in den Donbass zurückkehrte, blieben die Lebensbedingungen schlecht und gipfelten 1946/47 in einer Hungersnot. Auch der Arbeitsalltag änderte sich kaum, und die Bergarbeiter reagierten auf Zumutungen des Regimes mit den bewährten Verweigerungsstrategien. Auch die Abrechnung des stalinistischen Regimes mit echten und vermeintlichen Kollaborateuren stellte keine neue Erfahrung dar: Schauprozesse, nichtöffentliche Schnellverfahren und weitreichende Parteisäuberungen kannten die Menschen bereits aus der Vorkriegszeit.

Insgesamt überzeugt die Studie Tanja Penters durch ihren interpretatorischen Zugriff, der zum einen die Vorkriegszeit als Prägephase berücksichtigt und zum anderen die Grenzen zwischen Kooperation und Verweigerung als fließend begreift. Auf wohltuende Weise entzieht sich die Arbeit den etablierten Sichtweisen von Kollaboration und Widerstand. Sie setzt dieser einfachen Dichotomie ein differenziertes Bild entgegen, das die individuellen Überlebensstrategien und deren Anpassung an die jeweiligen Verhältnisse in den Blick nimmt. Die Loyalität der Bergarbeiter galt dabei eher dem Donbass als den politischen Systemen, denn weder zogen sie 1941 mit der Roten Armee noch 1943 mit der Wehrmacht ab, sondern blieben in ihrer Heimat und versuchten jeweils die Zerstörung der Gruben zu verhindern. Es ist das Verdienst von Tanja Penter, die Erfahrungen der Bergarbeiter mit der stalinistischen und nationalsozialistischen Herrschaft als zwei Bestandteile einer Geschichte beschrieben zu haben.

Jörg Ganzenmüller, Jena

Zitierweise: Jörg Ganzenmüller über: Tanja Penter Kohle für Hitler und Stalin. Arbeiten und Leben im Donbass 1929 bis 1953, Essen: Klartext 2010, 467 S., 34 Tab., 7 Abb. = Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe C: Arbeitseinsatz und Zwangsarbeit im Bergbau, 8. ISBN: 978-3-8375-0019-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ganzenmueller_Penter_Kohle.html (Datum des Seitenbesuchs)

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