Helga Schnabel-Schüle, Andreas Gestrich (Hrsg.) Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa. Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften Frankfurt a. M. [usw.] 2006. VI, 385 S., 9 Abb. = Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart.
Die Teilungen Polens wurden von der Historiographie stets als ein Sonderfall der Geschichte behandelt. Schon die Zeitgenossen hatten in der schrittweisen Aufteilung und schließlich vollständigen Liquidierung der Adelsrepublik durch die benachbarten Großmächte den Höhepunkt einer zynischen Machtpolitik gesehen. Die fehlenden Präzedenzfälle schufen auf Seiten der Teilungsmächte einen starken Legitimierungsbedarf. Indem die preußische, russische und österreichische Geschichtsschreibung die Souveränitätskrise der Adelsrepublik zur eigentlichen Ursache der Teilungen stilisierte, war der Fokus der Historiker lange Zeit auf die Vorgeschichte des Geschehens gerichtet. Fortan wurde vor allem ausgelotet, inwieweit der Untergang der Adelsrepublik das Ergebnis innerpolnischer Entwicklungen darstellte oder in erster Linie den machtpolitischen Ambitionen ihrer Anrainer geschuldet war. Darüber ist der eigentliche Vollzug des Herrschaftswechsels in den Hintergrund geraten.
Helga Schnabel-Schüle und Andreas Gestrich vereinen in dem vorliegenden Sammelband Beiträge zu Herrschaftswechseln in Europa am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Den Schwerpunkt bilden Untersuchungen zum Ende des Alten Reiches und zu den Teilungen Polens. Damit öffnet der Band gleich zwei Perspektiven: Zum einen rückt der Vollzug des Herrschaftswechsels nach den Teilungen in den Fokus, zum anderen wird der polnische Fall in einen europäischen Kontext gestellt und damit das Fundament für eine vergleichende Betrachtung gelegt. Der methodische Zugang, nach Formen von Inklusion und Exklusion zu fragen, erweist sich als äußerst fruchtbar, da auf diese Weise den Herrschaftswechsel überdauernde Kontinuitäten und die Elitenintegration im Blickpunkt stehen. Gerade in der Forschung zum geteilten Polen sind Fragen nach den Kontinuitäten zwischen der Adelsrepublik und der Teilungszeit sowie nach der Rolle des polnischen Adels in den Gesellschaften der Teilungsmächte bislang kaum thematisiert worden.
So bricht Claudia Kraft in ihrem Beitrag die oftmals doktrinär erscheinende Abgrenzung der Adelsrepublik von der Teilungszeit auf, indem sie das Elitenselbstverständnis des polnischen Adels von 1764 bis 1830 zum Gegenstand ihrer Untersuchung macht. Sie arbeitet einerseits die starken Kontinuitäten der Reformdiskussion um das Militär vom Ende der Adelsrepublik bis ins 19. Jahrhundert heraus und demonstriert zugleich, wie polnische Adlige über erfolgreiche Karrieren in der Armee des Königreichs Polen ihren prekären sozialen Status zu sichern versuchten. Auch in Preußen und in der Habsburgermonarchie bot das Militär dem polnischen Adel aussichtsreiche Karrierewege. Bernhard Schmitt zeigt, wie die beiden Teilungsmächte polnische Adlige gerade über das Absolvieren militärischer Bildungsinstitutionen zu integrieren versuchten. Der Militärdienst verband aus staatlicher Perspektive zwei Vorzüge miteinander: Er eröffnete den polnischen Adligen Karrierewege innerhalb des neuen Staatswesens und bot gleichzeitig die Möglichkeit zur Erziehung und Disziplinierung der neuen Untertanen. Diese Form der Integration erwies sich als durchaus erfolgreich. Die Zahl der Aufnahmegesuche polnischer Adliger, die ihre Söhne auf die Kadettenanstalten oder Militärakademien schicken wollten, war höher als die Anzahl der zur Verfügung stehenden Plätze. Hier lag zugleich aber auch das Problem dieser Inklusionsstrategie: Angesichts der großen Zahl polnischer Adliger waren die militärischen Ausbildungsressourcen zu knapp. Daher richtete sich dieses Angebot in erster Linie an den grundbesitzenden Kleinadel. Während Magnatensöhnen der direkte Eintritt in das Offizierskorps offenstand, wurden die besitzlosen Adligen nicht als gleichberechtigte Standesgenossen anerkannt, sondern als einfache Soldaten in spezielle polnische Truppen eingebunden. Der Militärdienst war also zugleich ein Element der Inklusion und Exklusion: Er bezog die vermögenden Adligen in die Elite des Imperiums ein und schloss die verarmte Szlachta aus dem Adelsstand aus.
Die Beiträge des Bandes zu den linksrheinischen Gebieten bestätigen, dass Herrschaftswechsel im Allgemeinen mit einer hohen Kontinuität bei den Funktionseliten einhergehen. So setzte Paris zwar in den 1794 annektierten linksrheinischen Gebieten an der Verwaltungsspitze französische Beamte ein, doch die Masse der Amtsträger bildeten auch nach einer Verwaltungsreform ortsansässige Deutsche. Beim erneuten Herrschaftswechsel 1815 wurden die französischen Beamten wiederum von preußischer, bayrischer, hessischer und oldenburgscher Seite übernommen (Gabriele B. Clemens).
Wie schon der Beitrag von Claudia Kraft zeigt auch die Untersuchung von Jan Kusber, dass im Zarenreich die Integration der polnischen Elite in eine Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Wandlungsprozesse fiel. Die Reformanstrengungen des Zarenreichs standen dabei in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Integration des polnischen Adels, der große Hoffnungen auf diesen Reformprozess setzte und sich aktiv an ihm beteiligte. Kern der Reformdiskussion im Königreich Polen war die Verfassungsfrage. Dabei überwogen im polnischen Diskurs bis 1818 diejenigen Stimmen, die in der Verfassung des Königreichs die Chancen auf eine eigenständige politische Entwicklung sahen. Erst als Alexander I. und sein Bruder Konstantin, der Oberkommandierende der polnischen Armee in Warschau, gegen die in der Verfassung verbriefte Autonomie verstießen, setzte eine Entfremdung der polnischen Elite vom Zaren, der in Personalunion auch polnischer König war, ein. Einen ganz anderen Schwerpunkt hatte hingegen die russische Diskussion um die Verfassung des Königreichs. Nur wenige sahen in ihr den Probelauf für eine Konstitution, die bald für das gesamte Zarenreich erlassen würde. Die Mehrheit betrachtete die Verfassung vielmehr als ein Abrücken vom Prinzip der Autokratie und stand dem Königreich Polen damit von Beginn an distanziert gegenüber.
Auch in Preußen erkannte man den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Fortschritt und gelungener Integration. Boris Olschewski arbeitet anhand der Besitzergreifungspatente von 1772, 1793 und 1795 drei Legitimationsstrategien heraus, mit deren Hilfe die preußische Regierung die Teilungen Polens rechtfertigte. Einerseits berief man sich zwar auf einen vermeintlichen historischen Anspruch, das annektierte Territorium zu besitzen, und beschwor auch eine von Polen ausgehende Gefahr herauf. Andererseits verwies man aber ebenso auf die Vorteile des Herrschaftswechsels für die Polen, die als neue preußische Untertanen die Vorzüge einer besseren Regierungsform genießen könnten.
Der europäische Vergleich zeigt, dass eine Reformpolitik sowohl integrationsfördernd als auch -hemmend wirken konnte. Im 1807 gegründeten Königreich Westfalen unterstützten eine Verfassung und gesellschaftliche Erneuerungen nachhaltig die Integration in den neuen, traditionslosen Herrschaftsverbund (Armin Owzar). Und in den von Frankreich annektierten linksrheinischen Gebieten trug die Einführung der revolutionären Errungenschaften maßgeblich zur Akzeptanz der neuen Herrschaft bei. Als schließlich in den 1815 Preußen zugesprochenen Gebieten das preußische Verwaltungs- und Rechtssystem eingeführt wurde, formierte sich sogar ein rheinischer Regionalismus, der für die Beibehaltung der französischen Einrichtungen eintrat und diese bald als „rheinisch“ umdefinierte (Jürgen Herres). In Bayern hingegen, wo aufgeklärte Bürokraten die 1806 gewonnenen Gebiete nicht zuletzt durch Reformen in das neue Königreich integrieren wollten, provozierte man eine Entfremdung der traditionsverhafteten Bevölkerungsteile (Werner K. Blessing).
Die polnische Adelsrepublik hatte eine heterogene Bevölkerung, so dass die drei Teilungsmächte unterschiedliche Ethnien und Kulturen in ihr Staatswesen aufnahmen. Jürgen Heyde zeigt am Beispiel der preußischen Judenpolitik, wie die Ausgrenzungs- und Vertreibungspolitik Friedrichs II. an der Undurchführbarkeit vor Ort scheiterte und schließlich in einer Integrationspolitik Friedrich Wilhelms II. mündete. Herrschaftswechsel wird hier als ein Anpassungs- und Lernprozess beschrieben, in dem beide Seiten miteinander kommunizierten, wobei die Erfordernisse des Alltags vor Ort andere Prioritäten setzten als die Regierung in der fernen Hauptstadt.
Insgesamt ist der Sammelband ein gelungenes Beispiel dafür, wie ein historisches Phänomen durch eine europäische Perspektive nach seinen jeweiligen Bedingungen und unterschiedlichen Ausprägungen befragt werden kann. Gerade die Vielfalt im Detail schärft dabei den Blick für die gemeinsamen Grundstrukturen.
Jörg Ganzenmüller, Jena
Zitierweise: Jörg Ganzenmüller über: Helga Schnabel-Schüle, Andreas Gestrich (Hrsg.): Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa. Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften Frankfurt a. M. [usw.] 2006. = Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart. ISBN: 978-3-631-55841-6, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 430-432: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ganzenmueller_Schnabel-Schuele_Fremde_Herrscher.html (Datum des Seitenbesuchs)