Walter Sperling (Hrsg.) Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich, 1800–1917. Campus Verlag Frank­furt/Main, New York 2008. 477 S. = Historische Politikforschung, 16. ISBN: 978-3-593-38766-6.

Die Geschichtsschreibung zum vorrevolutionären Russland ist auf das Verhältnis von „Autokratie“ und „Gesellschaft“ fokussiert. Walter Sperling möchte diese Dichotomie mit seinem Sammelband auflösen und damit jene Meistererzählung erschüttern, die bislang die Geschichte einer Verwestlichung erzählt hat. Demnach sei im Russischen Reich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts „Gesellschaft“ entstanden und sie habe den Machtanspruch der Autokratie herausgefordert. Der zarische Staat agierte in diesem Narrativ stets aus der Defensive heraus: Er sei bestrebt gewesen, sein Machtmonopol gegen das gesellschaftliche Verlangen nach einer stärkeren politischen Partizipation zu verteidigen. Sperling möchte diese bekannte Erzählung einer Konfrontation von Autokratie und Gesellschaft überwinden, indem er eine sehr viel offenere Leitfrage stellt: Auf welche Weise versuchten die Menschen im zarischen Russland, „über sich selbst und ihre vorgestellten Gemeinschaften zu bestimmen“ (S. 31)?

Eine solch weite Perspektive zieht eine entsprechend bunte Fülle von Themen nach sich. Die einzelnen Beiträge reichen von den Schauplätzen des Terrorismus (Anke Hilbrenner) bis hin zur visuellen Selbstinszenierung der freiwilligen Feuerwehr (Nigel Raab). Dennoch ist ein kohärenter Sammelband entstanden. Dies liegt daran, dass sich die meisten Beiträge auf den kommunikationsgeschichtlichen Ansatz, den Walter Sperling in einer äußerst anregenden Ein­leitung entwirft, einlassen. In einzelnen Schlag­lichtern beleuchten die Autoren von ganz unterschiedlichen Seiten die vielfältigen Allianzen und Brüche innerhalb der sozialen Ordnung des Zarenreiches, so dass am Ende ein differenziertes Bild des Beziehungsgeflechts von Staat und Gesellschaft entsteht. Angela Rustemeyer und Malte Rolf verdeutlichen, dass „die Autokratie“ kein homogenes Gebilde, sondern so widersprüchlich wie ihre Repräsentanten war. So ging die Einschränkung zarischer Macht nicht zuletzt von der Autokratie selbst aus, wie Rustemeyer am Beispiel des Arkanums zeigt. Die Abhängigkeit des politischen Zentrums von den staatlichen Repräsentanten in der Provinz wird in dem Aufsatz von Malte Rolf sichtbar. Er zeigt, wie der Generalgouverneur von Warschau die Regierung in St. Petersburg zu einem stärkeren Engagement beim Bau orthodoxer Kir­chen antrieb, indem er an deren Verantwortung für die rechtgläubige Bevölkerung appellierte. Die Peripherie des Reiches konnte mitunter also die politischen Entscheidungen in der Hauptstadt nachhaltig vorprägen.

Eine zweite Gruppe von Beiträgen zeigt, dass das Verhältnis von Autokratie und Gesellschaft in der politischen Praxis nicht zwangsläufig ein Gegeneinander, sondern häufig ein Miteinander war. Walter Sperling analysiert zum Beispiel in seinem Beitrag, wie die Diskussionen über den Streckenbau einer Eisenbahn, wel­che von lokalen Akteuren, der Eisenbahngesellschaft und den Ministerien geführt wurden, die räumliche Wahrnehmung der Provinz und das regionale Selbstverständnis der ansässigen Eliten veränderten. Stephan Merl legt dar, wie die Inspektoren der Staatsbank Kreditgenossenschaften auf dem Lande förderten, um die Bauern aus der Abhängigkeit von Wucherern und Zwischenhändlern zu befreien. Und Alexander Kaplunovskiy zeigt, wie das Finanzministerium in der Frage von arbeitsfreien Sonn- und Feiertagen zwischen Angestellten und Unternehmern vermittelte. „Modernisierung“ führte zwar zu Konflikten, doch fungierte der Staat nicht selten als Makler divergierender gesellschaftlicher Interessen. Im Alltag war Herrschaft also auch im Zarenreich ein Aushandlungsprozess.

Eine dritte Kategorie von Beiträgen wendet sich gegen die optimistische Sichtweise, dass gesellschaftliche Kräfte stets danach gestrebt hätten, die Autokratie einzuschränken und die politische Partizipation der Menschen auszuweiten. Kirstin Bönker beleuchtet beispielsweise den lokalpolitischen Einfluss der Ultrarechten in der Provinz. Und Alexis Hofmeister zeigt, wie antisemitische Pogrome die jüdische Bevölkerung aus der zarischen Gesellschaft vollends ex­kludierten, so dass diese sich schließlich von der Autokratie ab- und dem Chassidismus oder dem Zionismus zuwandte.

Insgesamt vereint dieser vorbildlich konzipierte Sammelband eine Vielzahl lesenswerter Beiträge, die sich gegen ein allzu starres Verständnis von den Verhältnissen im späten Zarenreich als einem unversöhnlichen Antagonismus von Autokratie und Gesellschaft wenden und auf eine Fülle von Ambivalenzen aufmerksam machen. Damit lädt das Buch zum Nachdenken darüber ein, inwieweit das Begriffspaar „autokratischer Staat“ und „Gesellschaft“ als erkenntnisleitender Zugang zur Geschichte des Zarenreiches inzwischen hinfällig geworden ist. Sperling möchte „Autokratie“ und „Gesellschaft“ nur noch als historiographische Begriffe verstanden wissen und führt als mögliche Alternativen die Bezeichnungen „Herrschaft“ und „Be­völkerung“ ein (S. 7ff.). Damit ist allerdings zum einen die zu Recht kritisierte Dichotomie nicht aufgehoben. Zum anderen werden bei dieser epochenübergreifenden Begrifflichkeit die spezifischen Probleme des 18. und 19. Jahrhunderts unscharf: Denn Herrschaft zeichnet sich in jener Zeit nun einmal durch eine ausgreifende Staatsgewalt einerseits und eine Zunahme der organisierten Befassung mit öffentlichen Belangen jenseits des Staates andererseits aus. Auch wenn „Staat“ und „Gesellschaft“ keine strikt getrennten Sphären waren und stets heterogene Gebilde sind, so hieße es wohl das Kind mit dem Bade auszuschütten, wollte man auf sie als historische Kategorien gänzlich verzichten.

Jörg Ganzenmüller, Jena/München

Zitierweise: Jörg Ganzenmüller über: Walter Sperling (Hrsg.): Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich, 1800–1917. Campus Verlag Frankfurt/Main, New York 2008. Historische Politikforschung, 16. ISBN: 978-3-593-38766-6, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 285: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ganzenmueller_Sperling_Jenseits_der_Zarenmacht.html (Datum des Seitenbesuchs)