Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 444-446

Verfasst von: Jörg Ganzenmüller

 

Matthias Stadelmann: Großfürst Konstantin Nikolaevič. Der persönliche Faktor und die Kultur des Wandels in der russischen Autokratie. Wiesbaden: Harrassowitz, 2012. XIII, 470 S., 52 Abb. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 79. ISBN: 978-3-447-06706-5.

Die Kulturgeschichte des Politischen hat in den letzten Jahren viel dazu beigetragen, unser Verständnis von politischen Entscheidungsprozessen um ihre symbolische und kommunikative Dimension zu erweitern. Das klassische Genre der Biographie ist von diesen Impulsen bislang jedoch noch wenig beeinflusst worden. Zwar gibt es methodische Debatten um eine neue Biographik, doch haben diese Überlegungen noch kaum zu neuen Biographien mit einer dezidiert kulturgeschichtlichen Perspektive geführt. Matthias Stadelmann legt mit seiner Erlanger Habilitationsschrift nun eine solche Studie vor. Er hat den Großfürsten Konstantin Nikolaevič zum zentralen Gegenstand seiner Untersuchung gemacht, jedoch keine Biographie klassischen Typs geschrieben. Vielmehr fragt er nach den Bedingungen von Reformpolitik in der russischen Autokratie und lotet den Anteil Konstantin Nikolaevičs an den politischen Entscheidungsprozessen der zarischen Regierung aus.

Der jüngere Bruder Alexanders II. eignet sich in idealer Weise für einen biographischen Zugang zur Zeit derGroßen Reformen. Schon früh galt Konstantin als der Begabteste von den vier Söhnen Nikolaus I. Anders als die Großfürsten vor und nach ihm mischte sich Konstantin Nikolaevič aktiv in die Politik ein. Eine institutionalisierteStelle‘ des jüngeren Kaiserbruders war in der politischen Struktur des Zarenreiches zwar nicht vorgesehen, doch Konstantin nutzte das familiäre Vertrauensverhältnis zu Alexander und profitierte vom weitreichenden Respekt gegenüber der Kaiserfamilie, um seinen politischen Ämtern stets mehr Bedeutung zu verleihen als diese eigentlich hatten. Bei den Zeitgenossen hinterließ Konstantin denn auch einen widersprüchlichen Eindruck: Den einen galt er alsungestümer Liberaler, der beherzt die Erneuerung Russlands vorantreibe, den anderen als ein verwöhnter Bengel, der sich anmaße, in die Regierungsgeschäfte einzugreifen.

Stadelmann wählt zwei Perspektiven, um den politischen Einfluss Konstantin Nikolaevičs zu bestimmen: Er geht zum einen dempersönlichen Faktorund damit der Relevanz der historischen Persönlichkeit Konstantins nach, zum anderen sieht er in einerKultur des Wandelsjener Jahre die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich Konstantin bewegte und die er zugleich mitgestaltete. Stadelmann wertet insbesondere die Zeugnisse zeitgenössischer Beobachter aus, vom Briefwechsel der Zarenfamilie bis hin zu Memoiren ranghoher Beamter. Anders als die traditionelle Politikgeschichte rekonstruiert Stadelmann aus diesen Zeugnissen jedoch nicht die historischen Charaktere selbst, sondern liest sie vielmehr als Zuschreibungen von Charaktereigenschaften durch die Zeitgenossen. Nicht der Mensch Konstantin Nikolaevič steht im Zentrum des Erkenntnisinteresses, sondern vielmehr die Vorstellungen, die sich einflussreiche Kreise von seiner Person machten und die auf seine Handlungsmöglichkeiten zurückwirkten.

Stadelmann wählt drei politische Stationen, um die Bedeutung von Konstantin Nikolaevič für die politische Kultur des Zarenreiches zu bestimmen: Die Ausarbeitung eines neuen Marinestatuts als erste politische Herausforderung des jungen Großfürsten, das Mitwirken im Hauptkomitee zur Abschaffung der Leibeigenschaft als dessen Beitrag zum zentralen Reformprojekt der Herrschaft Alexanders II. und die Statthalterschaft im Königreich Polen als ambitionierten Versuch, das polnische Volk mit der Petersburger Herrschaft zu versöhnen. Das erste und zweite Projekt waren erfolgreich, beim dritten scheiterte Konstantin auf ganzer Linie.

Als General-Admiral der russischen Flotte wurde Konstantin Nikolaevič mit der Ausarbeitung eines neuen Marinestatuts beauftragt. Hierbei beschritt der Großfürst gänzlich neue Wege. Er verschickte einen ersten Entwurf an die Offiziere der Marine und bat diese um ihre Stellungnahmen, die anschließend im zuständigen Komitee diskutiert wurden und in das endgültige Statut eingingen. Die Einbeziehung einer begrenzten Öffentlichkeit war zwar nicht als Meinungspluralismus gedacht, sondern als symphonische Mitwirkung der unmittelbar Betroffenen in der guten Absicht, zu einer adäquaten Gesetzgebung beizutragen. Nichtsdestotrotz waren Transparenz und Offenheit (schon damals: glasnost) eine gänzlich neue Art, die Regierungsgeschäfte zu führen.

Konstantin brachte seinen neuen politischen Stil auch in die Debatte um die Bauernbefreiung ein. Seine mitunter aufbrausenden Diskussionsbeiträge machten aus dem Hauptkomitee zur Abschaffung der Leibeigenschaft einen Ort heftiger politischer Auseinandersetzungen, was nicht wenige verstörte, die Regierungskomitees bis dahin als einen aristokratischen Konversationskreis kennengelernt hatten. Und auch in der Bauern­frage band Konstantin eine begrenzte Öffentlichkeit mit ein, indem er den Provinzadel in die Ausgestaltung der Reform miteinbezog. Stadelmann rekonstruiert den langwierigen Entscheidungsprozess zur Bauernbefreiung, im Zuge dessen widerstreitende Interessen zu einem Ausgleich gebracht werden mussten. Konstantin Nikolaevič war die treibende Kraft bei der Initiierung und schließlich bei der politischen Durchsetzung der Bauernbefreiung. Die konkrete Ausgestaltung der Reform bestimmten jedoch andere Akteure.

Stadelmann erzählt hier nicht nur die spannende Geschichte einer komplizierten Kompromissfindung, sondern er zeigt vielmehr, auf welche Weise politische Entscheidungen in der zarischen Regierung getroffen wurden. Die russische Autokratie war in ihrer Legitimation und in ihrem Selbstverständnis personalistisch angelegt, Politik war stets eine Angelegenheit, die zwischen dem Kaiser und seinen Vertrauten geregelt wurde. In einer solchen Konstellation konnte ein Einzelner großen Einfluss gewinnen. Stadelmann zeigt aber auch die Grenzen von Konstantin Nikolaevičs Möglichkeiten auf, der stets durch gute Argumente, konkurrierende Netzwerke oder politische Intrigen ausgebremst werden konnte.

Stadelmanns kulturgeschichtlich-biographischer Zugang ist nicht nur methodisch innovativ, er führt auch zu neuen Einsichten auf einem gut beackterten Forschungsfeld. So relativiert er die etablierte Sichtweise, dass der verlorene Krimkrieg und die Inthronisierung Alexanders II. den entscheidenden Anstoß zu denGroßen Reformengegeben hätten, und betont stattdessen den Diskurs der Erneuerung der fünfziger Jahre als entscheidende Bedingung. Aufgeklärte Bürokraten hatten das Feld für einen neuen Politikstil bereitet, und es bedurfte nur noch einer starken Persönlichkeit, welche die neuen Ideen aufgriff und genügend Autorität besaß, diese in politische Reformen umzumünzen. Dies war nicht etwa der Zar. Alexander II. wird vielmehr als zögerlicher Herrscher charakterisiert, der sich derKultur des Wandelszwar nicht entziehen konnte, doch ohne die treibende Kraft seines Bruders wohl kaum zu einer grundlegenden Reform der Sozialverfassung des Reiches imstande gewesen wäre.

Die Grenzen despersönlichen Faktorszeigen sich in Konstantin Nikolaevičs Wirken als Statthalter in Warschau im Jahr 1862, wo er eine dauerhafte Beruhigung der konfliktreichen Beziehung zwischen polnischer Gesellschaft und zarischer Herrschaft anstrebte. Der Januaraufstand von 1863/64 desavouierte seinen Ausgleichsversuch jedoch alsSchwäche, und in der aufgeheizten Stimmung in St. Petersburg erlebte nun ausgerechnet sein verhasster Konkurrent Michail Muravëv mit seiner Politik derharten Handeine politische Wiederauferstehung.

Matthias Stadelmanns biographische Studie hat den großen Vorzug, die Frage nach der Bedeutung einzelner Akteure für die russische Reformepoche des 19. Jahrhunderts neu zu diskutieren, ohne in die Erklärungsmuster der traditionellen Politikgeschichte zurückzufallen. Vielmehr schildert er ein stetes Wechselspiel aus einerKultur des Wandelsund dem Agieren Konstantin Nikolaevičs. Beide Faktoren bedingten und befeuerten sich gegenseitig: Der Großfürst trug ganz wesentlich zum Wandel der Autokratie bei, und gleichzeitig eröffnete dieKultur des Wandelsüberhaupt erst sein politisches Handlungsfeld.

Insgesamt bereitet dieses hervorragend geschriebene Buch nicht nur ein großes Lesevergnügen, es leistet vielmehr einen grundsätzlichen Beitrag zu einer Kulturgeschichte des Politischen und regt zum weiteren Nachdenken über das Verhältnis von historischen Persönlichkeiten und ihren kulturellen Voraussetzungen an.

Jörg Ganzenmüller, Weimar/Jena

Zitierweise: Jörg Ganzenmüller über: Matthias Stadelmann: Großfürst Konstantin Nikolaevič. Der persönliche Faktor und die Kultur des Wandels in der russischen Autokratie. Wiesbaden: Harrassowitz, 2012. XIII, 470 S., 52 Abb. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 79. ISBN: 978-3-447-06706-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ganzenmueller_Stadelmann_Grossfuerst_Konstantin_Nikolaevic.html (Datum des Seitenbesuchs)

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