Sebastian Schlegel Der „Weiße Archipel“. Sowjetische Atomstädte 1945–1991. Mit einem Geleitwort von Thomas Bohn. Ibidem-Verlag Stuttgart 2006. 147 S. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 36. ISBN: 978-3-89821-679-1.

Alles begann, wie der Verfasser schreibt, mit einer „Dummheit“. Während seines Studienaufenthaltes ließ sich Schlegel zwischen Weihnachten und Neujahr 2000 „in einer abenteuerlichen Aktion nach Seversk einschleusen“ (S. 11). Seversk ist eine geheime Atomstadt, unweit der westsibirischen Universitätsstadt Tomsk gelegen. Der Verfasser verbrachte damals zwei Wochen in der abgeschotteten Stadt, um Material zur Stadtgeschichte zu sammeln, Fotos zu schießen, Interviews zu führen und sogar eine Umfrage auf den Weg zu bringen. Diese „Dummheit“ ging insofern gut aus, als Schlegel nicht verhaftet wurde. Sie mündete aber auch in eine Magisterarbeit, die nun in publizierter Form vorliegt.

Nach einer viel zu ausführlichen Einleitung von zwanzig Seiten schildert Schlegel zuerst noch einmal, wie nach dem Zweiten Weltkrieg die sowjetische Atombombe gebaut wurde. Er fasst den Forschungsstand zusammen und wertet einzelne neu publizierte Dokumente aus. Seine Darstellung bilanziert so im Großen und Ganzen das, was längst bekannt ist.

Zu seinem eigentlichen Gegenstand, nämlich zu den Lebens- und Arbeitsbedingungen in den zehn geheimen Atomstädten der Sowjetunion, kommt Schlegel erst auf Seite 69. In seinem dritten Kapitel führt er zu Beginn in die Gründungsgeschichte der „geheimen Objekte“ ein, die in der Nachkriegszeit nicht zuletzt von mehreren zehntausenden Zwangsarbeitern aus dem Boden gestampft wurden. Anschließend beschreibt er auf zehn Seiten das in den Atomstädten herrschende Sicherheitsregime und den allgemeinen Geheimhaltungswahn, der mitunter groteske Züge annehmen konnte und den Fortgang der Forschungsarbeiten oftmals behinderte.

Die in den geschlossenen Städten tätigen Wissenschaftler und Techniker waren großem Druck ausgesetzt. Eingebunden in staatliche Auftrags- und Projektarbeiten, mussten sie ihre eigenen Interessen den vorgegebenen Forschungs- und Entwicklungszielen unterordnen. Bei Versagen drohten ihnen vielfältige Repressionen. „Erschießen können wir sie später noch“, so zynisch soll Stalin seine „Politik der langer Leine“ mit implizierter Terrordrohung auf den Punkt gebracht haben. Für die Experten gab es damit vitale Stimuli, ihre Arbeiten und Projekte erfolgreich zum Abschluss zu bringen.

Die geheimen Atomstädte stellten sich als „goldene Käfige“ dar, weil die Bewohner als Kompensation für ihre stark eingeschränkte Bewegungsfreiheit, den Geheimhaltungszwang und den hohen Erfolgsdruck zahlreiche Privilegien erhielten. Nicht nur die Lebensverhältnisse, sondern auch die Arbeitsbedingungen waren hier weit besser als im üblichen sowjetischen Forschungsbetrieb. So bildete sich eine Wissenschaft innerhalb der Sowjetwissenschaft heraus. Als aus dem sowjetischen Sozialleben herausgehobene Räume bildeten die geschlossenen Städte „Reservate des entwickelten Sozialismus“ und eine „Sowjetunion im Kleinen“, wo sich ein „Kommunismus auf Probe“ ausbilden sollte (S. 111–112).

Schlegel merkt zutreffend an, dass eigentlich nur die Frühgeschichte der Atomstädte gut dokumentiert sei, weil Archivdokumente für die Gründungszeit mittlerweile freigegeben wurden. Für die spätere Zeit, in der die geschlossenen Städte zu bedeutenden Wissenschafts- und Produktionsstandorten aufstiegen und sich hier die Rüstungsforschung fest etablierte, fehlt es an publizierten Archivquellen, mit denen die spärlichen Aussagen von Zeitzeugen abgeglichen werden könnten. Darum geht die Darstellung ausführlich auf die Vierziger- und Fünfzigerjahre ein, um sodann über eine Kluft von mehreren Jahrzehnten hinweg in die neunziger Jahre zu springen.

Das als Ausblick deklarierte Schlusskapitel beschäftigt sich mit den vielfältigen Problemen, die entstanden, als im Zuge allgemeiner Abrüstung und nach dem Ende des Kalten Krieges die Nuklearwaffenproduktion zurückgefahren wurde. Die Lebensverhältnisse in den Atomstädten verschlechterten sich merklich. Es bestand und besteht weiterhin die Gefahr eines illegalen Handels mit nuklearem Material, das in atomaren Schwellenländern und bei terroristischen Gruppen besonders nachgefragt ist. Ein Bündel von politischen und geheimdienstlichen Maßnahmen hat anscheinend bislang erfolgreich verhindert, dass aus Russland eine gefährliche Menge atomaren Spaltmaterials in falsche Hände geraten ist.

Die von Schlegel in Seversk durchgeführte Umfrage ergab, dass trotz aller Probleme eine große Mehrheit der Bewohner die Option ablehnt, ihre geschlossene Atomstadt in einen ‚normalen‘ Industriestandort und eine ‚zivile‘ Forschungsstätte umzuwandeln. Sie halten am überlieferten Anspruch fest, jenseits der üblichen Widrigkeiten des sozialen Lebens in einem exklusiven Raum zu leben und zu arbeiten. Die Existenzberechtigung der Atomstädte bleibt unbestritten, nicht zuletzt weil an ihre besondere Situation die weitere Gewährung von Privilegien geknüpft ist. Die Umfrage belegt zudem eine starke wertkonservative Einstellung der Stadtbewohner. Sie beobachten den allgemeinen politischen und kulturellen Wandel mit großer Skepsis und wünschen sich stabile Verhältnisse, um mit ihren Forschungs- und Rüstungsarbeiten zur Größe Russlands beitragen zu können.

Der Verfasser verspricht mitunter zu viel. Seine Ergebnisse sind keineswegs überraschend, auch wenn selbstbewusst der Anspruch formuliert wird, bestehende Kenntnisse zu erweitern und zu vertiefen. Auf Seite 28 wird in der Fußnote 20 auf eine Karte im Anhang verwiesen, auf der die untersuchten zehn Atomstädte eingetragen sein sollen. Leider fehlt sie. Ein wenig altklug tritt der Verfasser auf, wenn er schon etablierten Kollegen vorwirft, sie hätten bestimmte Dokumentenbände nicht bei ihren Studien ausgewertet (S. 41). Ein solcher Vorwurf wirkt auch auf den Verfasser selbst zurück, weil er trotz guter Materialrecherche seinerseits wichtige Forschungsarbeiten übersehen hat, so z.B. den aufschlussreichen, 1996 von Jürgen Aust gedrehten Dokumentarfilm „Arzamas 16“.

Die These von der „mentalen Militarisierung“ (besser wohl ‚Bellifizierung‘) der Forscher und Ingenieure hält der Verfasser für nicht plausibel. Er meint, in den Atomstädten keinen simulierten „Kriegszustand in Friedenszeiten“ ausmachen zu können. Die dort tätigen Wissenschaftler und Techniker seien aus „einem starken inneren Antrieb“ heraus die Herausforderungen des wissenschaftlich-technischen Waffenfortschritts angegangen. Für die Selbstmobilisierung spielte der Drang nach neuem Wissen, um die Geheimnisse der Natur zu entschlüsseln, zweifellos eine wichtige Rolle. Daneben gibt es aber auch eindrückliche Belege dafür, dass sich Forscher und Ingenieure in den Atomstädten als spezifische Akteure des Kalten Krieges sahen. So ist eine bellizistische Semantik in den Memoiren beteiligter Wissenschaftler und der offiziellen Rhetorik der Zeit kaum zu übersehen. Andrej Sacharov und Ivan Kurča­tov, zwei Wegbereiter des sowjetischen Atomprojektes, bekannten beide, sich als „Soldaten im naturwissenschaftlich-technischen Krieg“ ge­fühlt zu haben. In ihm gab es, wie der sowjetische Raketenforscher Boris Čertov ausführte, zwar „keine Millionen Toten auf den Schlachtfeldern, aber in den Konstruktionsbüros, Labors, in den geheimen Produktionshallen […] war die Anspannung und teilweise auch der Arbeitsheroismus nicht geringer als [während der] Jahre des vergangenen Kriegs“. Hier fand der Kalte Krieg „tatsächlich im Tempo des heißen Krieges statt“.

Die Frage, ob interessante Magisterarbeiten in Buchform veröffentlicht werden sollten, ist im vorliegenden Fall mit einem klaren „Jein“ zu beantworten. Ja, weil der Verfasser die verstreute Literatur zur noch kaum bekannten Geschichte der geheimen Atomstädte sichtet und in einer komprimierten Darstellung größtenteils kompetent auswertet. Das macht das Buch zweifellos nützlich. Nein, weil die Studie in Stil und Komposition wissenschaftlichen Maßstäben kaum genügt und in vielem einer studentischen Hausarbeit ähnelt. Schachtelsätze und eine sperrige Satzordnung sind ein ständiges Ärgernis. Bei der Lektüre der Zusammenfassung ergreift den Leser der unbändige Wunsch, einen Rotstift in die Hand zu nehmen, um dringend das nachzuholen, was die Korrektoren zuvor leider übersehen haben.

Klaus Gestwa, Tübingen

Zitierweise: Klaus Gestwa über: Sebastian Schlegel: Der „Weiße Archipel“. Sowjetische Atomstädte 1945–1991. Mit einem Geleitwort von Thomas Bohn. Ibidem-Verlag Stuttgart 2006. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 36. ISBN: 978-3-89821-679-1, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 4, S. 620-622: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Gestwa_Schlegel_Der_weisse_Archipel.html (Datum des Seitenbesuchs)