Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Carsten Goehrke

 

Ferdinand Feldbrugge Law in Medieval Russia. Leiden, Boston, MA: Nijhoff, 2009. XXVII, 335 S., Tab. = Law in Eastern Europe, 59. ISBN: 978-90-04-16985-2.

Seit Daniel H. Kaisers „The Growth of the Law in Medieval Russia“ sind fast dreißig Jahre vergangen. Nicht nur dies rechtfertigt es, auf der Basis des seit dem Ende der Sowjetunion auch in Russland deutlich verbesserten Forschungsstandes einen neuen, kritischen Überblick über die Rechtsgeschichte der alten Rus’ zu wagen, sondern auch, weil Kaiser eher Grundzüge herausgearbeitet hat. Ferdinand Feldbrugge, emeritierter Professor für Osteuropäisches Recht an der Universität Leiden, hat sich vor allem als Experte für sowjetisches und zeitgenössisches russisches Recht einen Namen gemacht, aber auch die historischen Bezüge der russischen Rechtskultur des 20. Jahrhunderts nie aus den Augen verloren. Diese doppelte Kompetenz befähigt ihn dazu, aus der Perspektive der Moderne heraus und mit dem geschulten Blick des Systematikers die Wurzeln und die Erscheinungsformen des Rechtes der Rus’ zu analysieren und zu beurteilen. Dabei geht es ihm auch darum, das Recht als solches in den jeweiligen europäischen und gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen. In seinem letzten Kapitel wagt er sich sogar über die Grenzen der Rus’ hinaus und behandelt das armenische und georgische Recht des Mittelalters unter dem Gesichtspunkt europäischer Rechtsperipherie. Der Gefahr, moderne Rechtskategorien und Systematisierungen in mittelalterliches Rechtsdenken hineinzutragen, welche viele rechtshistorische Darstellungen fehlgeleitet hat, bleibt der Verfasser sich stets bewusst. Diese Falle umgangen zu haben, ist ein großes Verdienst des vorliegenden Buches.

Der erste Interessenschwerpunkt gilt naturgemäß der Entstehung, Weiterentwicklung und konkreten Rechtssetzung der Pravda russkaja, deren ältesten Kern Feldbrugge in die unmittelbare Anfangszeit territorial übergreifender Kiever Herrschaft datiert, weil für deren Bedürfnisse, Ordnung zu stiften, das herkömmliche Gewohnheitsrecht nicht mehr ausreichte. In seinem Urteil darüber, inwieweit die älteste Pravda neben ostslavischem Gewohnheits- auch germanisches Recht aufgenommen hat, bleibt Feldbrugge vorsichtig, da die Unterschiede zwischen frühem ostslavischem Gewohnheitsrecht und germanischen Stammesrechten ohnehin nicht allzu groß seien (S. 57–58). Breiten Raum widmet er der Erörterung der immer noch kontrovers diskutierten Frage nach dem Einfluss römischen Rechts auf das Recht der Rus’ (S. 59–128). In einer diffizilen Bestandsaufnahme kommt er zu dem – von der großen Mehrheit der Experten geteilten – Schluss, dass ein solcher unmittelbarer Einfluss nicht nachweisbar sei und dass dies auch für das säkulare byzantinische Recht gelte. Darin sieht er einen ganz entscheidenden Schlüssel für das Verständnis der von Lateineuropa abweichenden Rechtsentwicklung der mittelalterlichen Rus’ und – so darf ich hinzufügen – auch für die andere Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft. Einen dritten Schwerpunkt setzt Feldbrugge mit der Auflistung und rechtlichen Bewertung der überlieferten Verträge (S. 181–231). Kurz streift er fernerhin das Thema des Besitzrechts, das in der innerrussischen und sowjetischen Diskussion in Zusammenhang mit dem Feudalismusmodell eine besondere Rolle gespielt hat, er beschäftigt sich dann mit den rechtlichen Aspekten der burgstädtischen Volksversammlungen bzw. des veče sowie der hierarchischen Rechtsfunktion des Konzeptes vom „Älteren Bruder“. Eine vergleichende Untersuchung der Skra – des auf dem deutschen St. Peterhof zu Novgorod für dessen Bewohner geltenden Rechts – soll klären, inwieweit sich Einflüsse dieser niederdeutschen Rechtsenklave auf das Novgoroder Recht aufspüren lassen (S. 261–291). Feldbrugge sieht einige wenige Parallelen vor allem zur Gerichtsurkunde von Pskov, hält aber die grundsätzlichen Differenzen zum lokalen Recht für nicht allzu groß. Er führt dies auf die ähnlich gelagerten Interessen beider Seiten im Rahmen der Handelsbeziehungen zurück. Über den reinen Mittel­alter­bereich hinaus leitet die Frage nach endogenen Wurzeln der Menschenrechte in Russland (S. 233–259). Weil dessen staatsrechtliche Entwicklung völlig anders verlief als diejenige Lateineuropas, war die Idee der Menschenrechte in Russland ein Fremdgewächs, welches allmählich gleichwohl Wurzel schlug, sich historisch aber nur sehr schwach auf von der Kirche propagierte christliche Werte zu stützen vermochte.

Feldbrugges systematisierte und kritische Bestandsaufnahme dessen, was sich von den Quellen her als Recht der Rus’ des 11. bis 15. Jahrhunderts fassen lässt, bietet künftiger Forschung ein differenziertes und verlässliches Fundament. In ihren historischen Bezügen erweist sich die Abhandlung allerdings nicht immer auf der Höhe der Forschung. Dies zeigt sich etwa im Kapitel über das veče. Dass Feldbrugge die wichtigen Aufsätze von Leffler zur coniuratio und von Mumenthaler zur städtischen Verfassungstypologie entgangen sind, mag ja noch angehen, aber die zentralen Monographien von Zernack und Granberg mit der Entschuldigung abzutun, sie seien ihm nicht zugänglich gewesen, würde im Zeitalter der Fernleihe und des Internets keinem Doktoranden nachgesehen. Was ich außerdem vermisse, ist ein Gesamtresümee der Untersuchung. Daher bleibt diese letztlich eine lose zusammengebundene Sammlung thematischer Einzelstudien.

Carsten Goehrke, Zürich

Zitierweise: Carsten Goehrke über: Ferdinand Feldbrugge Law in Medieval Russia. Martinus Nijhoff Publishers Leiden, Boston, MA 2009. XXVII. = Law in Eastern Europe, 59. ISBN: 978-90-04-16985-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Goehrke_Feldbrugge_Law_in_Medieval_Russia.html (Datum des Seitenbesuchs)

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