Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Carsten Goehrke

 

Obščestvennaja mysl’ slavjanskich narodov v ėpochu rannego srednevekov’ja [Das Gesellschaftsdenken der slavischen Völker in der Epoche des Frühmittelalters]. Otv. red. Boris N. Florja. Moskva: Izdat. Rukopisnye pamjatniki Drevnej Ru­si 2009. 317 S. ISBN: 978-5-9551-0300-6.

Wie leistungsfähig die russische Frühmittelalterforschung auch bei Themen außerhalb des ureigensten Raumes mittlerweile ist, zeigt der vorliegende, von B. N. Florja betreute thematische Sammelband. Sechs Forscherinnen und Forscher haben sich zusammengefunden, um der Frage nachzugehen, wie die Herausbildung von Herrschaft und „Staatlichkeit“ bei den slawischen Völkern in der Wahrnehmung und Darstellung der ältesten endogenen Quellen aufscheint – bei den Bulgaren (S. A. Ivanov), in der Rus’ (B. N. Florja, A. A. Turilov), bei Serben und Kroaten (O. A. Akimova), in Polen (B. N. Florja) und bei den Tschechen (A. M. Kuznecova). V. Ja. Pet­ru­chin steuert einen Vergleich der slawischen und der germanisch-skandinavischen Überlieferungen bei. Der Zeitraum, um den es geht, deckt das 10. bis 12. Jahrhundert ab. Das Unterfangen selber gestaltet sich angesichts der spärlichen und weit gestreuten Informationslage außerordentlich anspruchsvoll und schwierig. Denn es gilt, nicht nur die ältesten Chroniken wie die Povest’ vremennych let für die Rus’, Gallus Anonymus für Polen, Cosmas von Prag für die Tschechen, die Ljetopis popa Dukljanina für die Südslaven und die bulgarische Apokryphe Chronik auszuwerten, sondern auch hagiographische Schriften, ausländische (lateinische und byzantinische) Quellenzeugnisse, epigraphische Hinterlassenschaften (insbesondere für die Südslaven) sowie einige wenige erste eigene Urkunden als Informationsquellen zu konsultieren.

Durch die Bank glänzen die Beiträge durch hohes wissenschaftliches Niveau, fundierte Quellenkenntnis sowie kritisches Bewusstsein und berücksichtigen (mit Ausnahme des Aufsatzes über die Rus’) auch die Ergebnisse der internationalen Forschung. Petruchins siebzigseitiger Beitrag (S. 81–150) stellt die Frage nach den Anfängen der Herrschaftsbildung in einen vergleichenden slawisch-germanischen Zusammenhang. Er verweist darauf, dass die Erzählung von der Berufung der Waräger durch die Slawen in der „Erzählung von den vergangenen Jahren“ einem Topos entspricht, der sich auch in der angelsächsischen Überlieferung findet. Hingegen sei die sakrale Mythisierung der fürstlichen Dynastiegründer, die in den skandinavischen Quellen noch fassbar sei, in der auf Byzanz ausgerichteten Kiewer Chronistik weitestgehend getilgt worden. Die Großhügelgräber, das Gefolgschaftswesen und der Umritt von Fürst und Gefolgschaft, um Verköstigung und Tribut einzuziehen (po­ljud’e), seien den Rus’ und den Skandinaviern, insbesondere den Schweden im 10. Jahrhundert, aber gemeinsam gewesen. Allerdings ohne dass bei den Rus’ die Gefolgsleute zum Fürsten in einem Lehnsverhältnis gestanden hätten. Auch dass sich in beiden Regionen das Herrschaftssystem aus einer Dyarchie von Fürst und Wojewode zur Einherrschaft weiterentwickelt habe, postuliert Petruchin. Der Verdienst seines Beitrags besteht darin, aus den ganz unterschiedlichen Quellen in der frühmittelalterlichen skando-germanischen und ostslawisch-baltisch-ostseefinnischen Welt Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Genese von Herrschaft herausgefiltert zu haben. In der Frage, inwieweit die Gemeinsamkeiten auf Parallelentwicklungen oder auf die Expansion der Wikinger zurückgehen, hält er sich jedoch seltsam bedeckt.

Im Zentrum der Herrschaftsvorstellungen stehen in fast allen frühen slawischen Annalen der Fürst und seine Gefolgschaft. Vom Fürsten erwarten die geistlichen Chronisten Schutz und Schirm für Land und Leute, die Aufrechterhaltung von Ordnung und Gerechtigkeit gegenüber jedem. Wo diese Erwartungen grob verletzt werden, sparen die kirchlichen Beobachter nicht mit Kritik und heißen teilweise sogar die Absetzung des fehlbaren Herrschers gut. Die Kirche als Anwalt der Schwachen – das ist eine gegenüber der früheren marxistisch-leninistischen Historiographie radikale Kehrtwende der russischen Mediävistik. Der Wahrnehmung der Chronisten nach schuldet die Gefolgschaft dem Fürsten bedingungslose Treue, im Gegenzug dazu der Fürst seinen Leuten Schutz und Fürsorge. Allerdings spitzt Kuznecova nur bei den Tschechen diese Wechselseitigkeit zu einer unbedingten Treuepflicht des Fürsten gegenüber seinen Gefolgsleuten zu. Doch dürfte dies zumindest ebenso für die Rus’ gelten, wie jüngst Petr Stefanovič gezeigt hat. Damit würden die frühen Slawen auch in dieser Hinsicht nicht aus dem gesamteuropäischen Rahmen fallen. Dass die adlige Elite den Nachfolger des Fürsten wählte, dabei aber an die Dynastie gebunden blieb, gilt im Frühmittelalter für Ost-, West- und Südslawen, wird aber von Gallus Anonymus für Polen verschwiegen, da er sich seinem fürstlichen Auftraggeber verpflichtet fühlte. Sehr deutlich herausgearbeitet wird, dass die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse bei den Bulgaren, Serben und Kroaten wegen nomadischer Herkunft, antiker Traditionen, ethnischer Buntheit oder byzantinischer bzw. fränkischer Einflüsse komplexer waren. Als besondere Stärke des Sammelbandes erscheint die bündige vergleichende Zusammenfassung der Ergebnisse durch B. N. Florja – leider immer noch alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Carsten Goehrke, Zürich

Zitierweise: Carsten Goehrke über: Obščestvennaja mysl’ slavjanskich narodov v ėpochu rannego srednevekov’ja [Das Gesellschaftsdenken der slavischen Völker in der Epoche des Frühmittelalters]. Otv. red. Boris N. Florja. Izdat. Rukopisnye pamjatniki Drevnej Rusi Moskva 2009. ISBN: 978-5-9551-0300-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Goehrke_Florja_Obscestvennaja_mysl.html (Datum des Seitenbesuchs)

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