Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 65 (2017), H. 3, S. 520-521
Verfasst von: Carsten Goehrke
Novgorod ou la Russie oubliée. Une république commerçante (XIIe – XVe siècles). Sous la direction de Philippe Frison et Olga Sevastyanova. Préfacé par Florand [recte: Florent] Mouchard. Charenton-le-Pont: Le Ver à Soie 2015. 461 S., zahlr. Abb., 6 Ktn. = Histoires effacées. ISBN: 979-10-92364-15-6.
Novgorod – ein „vergessenes“ Russland? Novgorod, das zu den besterforschten Teilgebieten des mittelalterlichen ostslavischen Kosmos gehört? Die Herausgeberin Olga Sevastyanova, die 2008 an der Universität Zürich mit einer Arbeit über die Entwicklung der Selbstinszenierung Groß-Novgorods glanzvoll promoviert hat und heute an der Universität Aberdeen unterrichtet, weiß das natürlich auch. „Vergessen“ meint sie daher in einem anderen Sinne, nämlich als in Putins Russland unerwünscht, weil eine wie auch immer ‚demokratisch‘ verfasste Stadtrepublik mit gewählten Amtsträgern der derzeitigen Staatsauffassung, die sich eher in der autokratischen Tradition des Zarenreiches sieht, zuwiderläuft (S. 380–382). Ob es geschickt war, einen provokativen Buchtitel erst auf so verschlungenen Wegen einsichtig zu machen, ist allerdings zu bezweifeln.
Olga Sevastyanova und ihrem Mitherausgeber Philippe Frison, Lehrbeauftragter an der Universität Straßburg, ist es gelungen, eine ganze Schar nicht zuletzt jüngerer, internationaler Novgorod-Spezialisten zur Mitarbeit an diesem großformatigen Sammelband heranzuziehen, der zugleich durch seine zahlreichen Abbildungen besticht. Die Geschichte Groß-Novgorods – von den Anfängen bis in die beiden ersten Jahrzehnte nach seiner Unterwerfung durch Moskau (1478) – wird in fünf Themenblöcke eingepasst, die sich in insgesamt 27 Einzelkapitel aus der Feder einzelner Autorinnen und Autoren aufgliedern. Der erste Block setzt den geographischen und ethnischen Rahmen für die Entwicklung Novgorods als Stadt (Thomas Stiglbrunner) und als Territorium sowie für ihre Handels- und politischen Beziehungen zum Ostseeraum und zu Polen-Litauen (Jukka Korpela, Catherine Squires, Lidia Korczak). Im zweiten Block geht es um die Entwicklung des typischen Novgoroder ‚Verfassungsmodells‘ (Olga Sevastyanova, Philippe Frison, Oreste Martychine) und um Groß-Novgorods Versuche, sich zwischen den Machtinteressen der Großfürsten von Vladimir, später Moskau, und den Großfürsten von Litauen zu behaupten. Welche Rolle die Schwesterrepublik Pskov in diesem Zusammenhang spielte, zeigt Gertrud Pickhan auf. Der dritte Block kreist um das wirtschaftliche und soziale Leben Novgorods (Roman K. Kovalev, Michael C. Paul) und widmet einzelne Kapitel den beiden ausländischen Handelshöfen in der Stadt (Catherine Squires), den Schriftstücken auf Birkenbast (Claire Le Feuvre) und dem rechtlichen, wirtschaftlichen sowie politischen Status der Frauen (Eve Levin). Im vierten Themenblock geht es um das religiöse Leben (Jean-Pierre Arrignon), die Entwicklung von Architektur, Freskenmalerei und Musik sowie um die kulturellen Beziehungen zu Lateineuropa (Svetlana Sobkovitch, Vladimir Povetkin, Catherine Squires). Der Schlussteil befasst sich mit den Quellen (Florent Mouchard), der Mythisierung und Instrumentalisierung der Novgoroder Geschichte während der letzten drei Jahrhunderte (Olga Sevastyanova) und ordnet das Modell der Stadtrepublik Novgorod in die Städtewelt des spätmittelalterlichen Europa ein (Ludwig Steindorff). Zum Schluss steuert der Altmeister der Novgorod-Forschung – Valentin Janin – als eine Art Zusammenfassung einen Kurzüberblick über die Geschichte des Stadtstaates bei, den er bekanntlich als feudale „Bojarenrepublik“ versteht. Allein sechs der 27 Beiträge hat Olga Sevastyanova verfasst, darunter einen so zentralen wie den über die in der Historiographie heiß umstrittene Volksversammlung, das veče.
Zahlreiche Quellenauszüge, Karten, eine Fürstenliste und eine chronologische Synoptik der Ereignisse in Novgorod in ihrem ostslavischen und europäischen Kontext sowie eine chronologische Synoptik der Fürsten, der gewählten Amtsträger und der Bischöfe (S. 412–450) ergänzen die Beiträge und dürften künftiger Forschung als hochwillkommene Hilfsmittel dienen. Der Sammelband vermittelt einen systematischen, breit gefächerten, dabei nicht allzu tief schürfenden Überblick über Geschichte und historische Bedeutung Groß-Novgorods, zeigt sich in seinem wissenschaftlichen Gehalt auf der Höhe der derzeitigen internationalen Novgorod-Forschung und offenbart, welches wissenschaftliche Potenzial dieser Themenbereich auch außerhalb Russlands in sich birgt.
Zitierweise: Carsten Goehrke über: Novgorod ou la Russie oubliée. Une république commerçante (XIIe–XVe siècles). Sous la direction de Philippe Frison et Olga Sevastyanova. Préfacé par Florand [recte: Florent] Mouchard. Charenton-le-pont: Le Ver à Soie 2015. 461 S., zahlr. Abb., 6 Ktn. = Histoires effacées. ISBN: 979-10-92364-15-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Goehrke_Frison_Novgorod_ou_la_Russie_oubliee.html (Datum des Seitenbesuchs)
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