Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Carsten Goehrke

 

Ljudmila N. Slavina Sel’skoe naselenie vostoč­noj Sibiri (1960–1980-e gg.). Monografija [Die Landbevölkerung Ostsibiriens (1960er bis 1980er Jahre). Eine Monographie]. Krasnojarsk: Krasnojarskij Gosudarstvennyj Pedagogi­českij Universitet im. V. P. Astafeva, 2007. 471 S., zahlr. Tab. ISBN: 978-5-85981-259-2.

Als meine Frau und ich 1993 zum ersten Mal den Jenissej zwischen Krasnojarsk und Dudinka bereisten, wurden wir unterwegs mit einem Phänomen konfrontiert, das mir von meiner Dissertation her bekannt vorkam: mit Wüstungen, diesmal aus der späten Sowjetzeit. In den verbliebenen, isolierten Dörfern am Strom begegneten wir dem einfachen, kargen Leben, dem Alkoholismus, dem Hass auf Stalin, aber auch immer noch den Spuren des alten Pioniergeistes.

Den Veränderungen der Siedlungs- und Bevölkerungsstruktur auf dem Gebiet Ostsibiriens – den Regionen Krasnojarsk, Irkutsk und Čita sowie in den autonomen Republiken Tuva und Burjatien – während der letzten drei Jahrzehnte der Sowjetzeit geht das vorliegende Buch auf den Grund. Zwar durchlief die Bevölkerungsentwicklung auf dem Lande im Zuge von Urbanisierung und Industrialisierung ähnliche Metamorphosen wie im Durchschnitt der RSFSR, doch allein schon die Tatsache, dass Ostsibirien 1959 auf einem Viertel des Territoriums der RSFSR ganze 3,2 % der ländlichen Siedlungen beherbergte, zeigt, dass wir es dort auch mit regionalspezifischen Besonderheiten zu tun haben. Zwar flossen nach der Aufhebung der Freizügigkeitsbeschränkungen seit dem Ende der fünfziger Jahre auch in Ostsibirien große Teile der Landbevölkerung in die Städte ab, doch mit geringeren Folgen als im europäischen Russland, so dass bis 1989 die Landbevölkerung nur um 15,9 % gegenüber 30,4 % in der RSFSR im Ganzen schrumpfte (S. 21), vor allem wegen der stärkeren Reproduktivität der tuvinischen und burjatischen Bevölkerung. Doch die Urbanisierung entwickelte sich seit 1959 stürmischer als in der RSFSR insgesamt, so dass der Anteil der Landbevölkerung von 47,3 % (1959) auf 28,1 % (1989) abnahm. Dies aber hatte verheerendere Konsequenzen als im europäischen Russland. Mit der vom Staat geförderten Liquidierung der in Sibirien besonders zahlreichen „Siedlungen ohne Perspektive“ dünnte das ohnehin schon weitmaschige Siedlungsnetz so stark aus, dass auch viele „Perspektivsiedlungen“ an Attraktivität verloren und die Bevölkerung nur noch stärker in die Städte tendierte. Die ursprüngliche Absicht Chruščevs, durch Siedlungskonzentration die Unterschiede zwischen Stadt und Land aufzuheben, verfehlte wegen unzureichender Investitionen in die Infrastruktur der „Perspektivsiedlungen“ daher letztlich ihr Ziel. Noch mehr als im europäischen Russland kam den „Perspektivsiedlungen“ Ostsibiriens die Perspektive abhanden, so dass die Jugend, welcher nun auch auf dem Dorfe Radio und Fernsehen die urbane Welt ins Haus brachten, in Massen abwanderte (die weibliche Jugend sofort nach Abschluss der Schulzeit, die männliche etwas später). Neben dem gegenüber dem europäischen Russland überproportionalen Verlust von mehr als der Hälfte aller Siedlungen und großer Teile ihres Nutzlandes, neben dem vorübergehenden Verbot der persönlichen Nebenwirtschaft und neben der Überführung der Kolchosen in Sowchosen war es dieses allmähliche Absterben des landwirtschaftlichen Know-hows, welches zur „Entbauerung“ der ostsibirischen Landwirtschaft und zur sozialen Entwurzelung der Migranten beitrug. Doch trotz des in Sibirien besonders ausgeprägten Alkoholismus, trotz der harten Lebensbedingungen und trotz der „Entbauerung“ und des weitgehenden Verlustes der mit dem Bauerntum verbundenen Werte zeigten die ostsibirischen Dörfler zu Beginn der neunziger Jahre im Unterschied zum europäischen Russland immer noch Reste traditionalen Verhaltens: Angesichts der Isoliertheit vieler Siedlungen und der harten Existenzbedingungen gab es vergleichsweise mehr intakte Familien (S. 361–362) und eine höhere Geburtenrate (nicht zuletzt dank der nichtrussischen Völker).

Slavina ist zwar ein hoch systematisiertes, detail- und tabellengesättigtes Kompendium gelungen, welches die ostsibirischen Spezifika kom­parativ herauszuarbeiten vermag, jedoch die Ebene der statistischen Demographie nie verlässt und dafür den Preis einer staubtrockenen Darstellung und permanenter Redundanzen zahlt.

Carsten Goehrke, Zürich

Zitierweise: Carsten Goehrke über: Ljudmila N. Slavina Sel’skoe naselenie vostočnoj Sibiri (1960–1980-e gg.). Monografija [Die Landbevölkerung Ostsibiriens (1960er bis 1980er Jahre). Eine Monographie]. Krasnojarskij Gosudarstvennyj Pedagogičeskij Universitet im. V. P. Astaf'eva Krasnojarsk 2007. ISBN: 978-5-85981-259-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Goehrke_Slavina_Selskoe_naselenie.html (Datum des Seitenbesuchs)

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