Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 475-476

Verfasst von: Carsten Goehrke

 

Rol gosudarstva v istoričeskom razvitii Rossii – The Role of the State in the Historical Development of Russia. Materialy meždunarodnoj naučnoj konferencii budapeštskogo Centra Rusistiki ot 17–18 maja 2010 g. – Materials of the International Historical Conference at the Centre for Russian Studies in Budapest, 17–18 May, 2010. Redaktor Djula Svak – Edited by Gyula Szvák. Budapešt – Budapest: Russica Pannonicana, 2011. 345 S., Abb. = Knigi po rusistike, 27. ISBN: 978-963-7730-63-4.

Dass der Staat und seine Ausgestaltung für die Geschichte Russlands nicht nur eine wichtige, sondern eine zentrale Rolle gespielt hat und immer noch spielt, ist wohl unbestritten. Daher darf das Thema des vorliegenden Sammelbandes der Aufmerksamkeit unserer Fachwelt gewiss sein. Er vereinigt dreißig Aufsätze von Russlandhistorikerinnen und -historikern vornehmlich aus Ungarn und Russland, vereinzelt aber auch aus Argentinien, China, Großbritannien, Tunesien und den USA. Publikationssprachen sind Russisch und Englisch.

Einige Beiträge widmen sich der Begrifflichkeit von Staat (gosudarstvo) und Staatlichkeit (gosudarstvennost), wobei insbesondere Claudio Ingerflom die Problematik hervorhebt, die sich aus der Inkongruenz von moderner Begrifflichkeit und den Herrschaftssystemen der Vergangenheit ergibt (S. 215232). Eine besondere Stärke der Themenauswahl besteht darin, dass der gesamte Zeitraum vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart ziemlich gleichmäßig abgedeckt wird. Das inhaltliche Spektrum ist breit, doch einige Beiträge können nur mit viel Fantasie dem Kernthema zugerechnet werden. Da die Aufsätze etwas erweiterte Kurzreferate präsentieren, hat dies zur Folge, dass die meisten eher plakativ gehalten sind. Der Redaktor Gyula Szvák hat leider darauf verzichtet, in einer Schlussbilanz so etwas wie einen Ertrag der Konferenz zu formulieren. Vom wissenschaftlichen Gehalt her findet sich unter den Beiträgen zum eigentlichen Thema Belangloses neben erstaunlich vielen Redundanzen von bereits Bekanntem. Dies gilt vor allem für das Mittelalter. Ich werde daher nur diejenigen Beiträge vorstellen, die aus meiner Sicht wissenschaftlichen Neuwert oder Diskussionsstoff bieten.

Ich beginne gleich mit dem zuletzt genannten Themenbereich: Gábor Gyóni gibt einen Überblick über die widersprüchliche Darstellung Groß-Novgorods in der russländischen Historiographie der letzten fünfundzwanzig Jahre (S. 5261); allerdings bleibt dieser russozentrische Forschungsbericht wissenschaftlich letztlich unfruchtbar, weil er die Ergebnisse der ungemein reichhaltigen und viel weiter ausgreifenden westlichen Novgorodforschung ausblendet (Granberg, Leffler, Mumenthaler, Sevastyanova). Dafür verdienen drei Beiträge zum Moskauer Verwaltungssystem der frühen Neuzeit Beachtung. D.V. Lisejcev legt eine quellenbasierte Analyse der viel gescholtenen Umständlichkeit der Moskauer Prikaz-Verwaltungen des frühen 17. Jahrhunderts vor und kommt zu dem Ergebnis, dass sie ihr Arbeitstempo der Dringlichkeit der Fälle anpassten, die sie zu bearbeiten hatten (S. 121132). A.P. Pavlov führt das Thema für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts weiter, konzentriert sich aber auf die Verwaltungsebene der Djaken; er vermag zu zeigen, dass mit der starken Vermehrung der Djaken im 17. Jahrhundert und der zunehmenden Berücksichtigung niedrigerer Adelsgruppen und sogar Nichtadliger Sozialprestige und Einfluss des Djakentums zurückgingen und es immer weniger als Sprungbrett für eine Karriere am Moskauer Hof zu dienen vermochte (S. 142153). Den dritten Beitrag zur Verwaltungsgeschichte steuert D.A. Redin beidiesmal zur unteren Ebene der Provinzialverwaltungen vom ausgehenden 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts (S. 190202); am Beispiel von zwei Kreisstädten verfolgt er die soziale Formierung der unteren Verwaltungskader, die im nordrussischen Chlynov vor allem von Angehörigen der Posadelite monopolisiert, im sibirischen Tjumenmit seiner stärker militärisch geprägten Sozialstruktur hingegen von den unterschiedlichsten Gruppen, auch dem unteren Dienstadel, angestrebt wurde; allen gemeinsam war allerdings das Interesse an den Möglichkeiten zur persönlichen Bereicherung, die selbst die schlecht bezahlte Position des Untersekretärs (podjačij) bot. Irina Glebova versucht den postsowjetischen Staat mit Kategorien zu beschreiben, die sich in der russischen Staatsgeschichtsschreibung finden lassen. Die passendste Analogie sieht sie im Konzept des «Hof-Staates» (dvorcovoe gosudarstvo), welches sich anhand der Beschreibungen des nachpetrinischen russländischen Staatssystems durch Vasilij Ključevskij entwickeln lässt (S. 314330). Für sie bewegt sich das Putinsche Russland daher weniger zurück in Richtung Sowjetunion, sondern noch weiter rückwärts zum Hofschranzenfilz des 18. Jahrhunderts. Tamás Krausz interessiert sich für die unterschiedlichen Konzepte, mit denen Politische und Geschichtswissenschaften den Systemwechsel der Jahre 1989 bis 1991 in den kommunistisch regierten Ländern Europas zu hinterfragen suchen (S. 331342). Den aus meiner Sicht aufschlussreichsten Beitrag verdanken wir dem Pekinger Politologen Huan Lifu (S. 292304). Er analysiert Meinungsumfragen von 2003 in Russland, welche die Einschätzung der Stärken und Schwächen der verschiedenen Perioden Russlands vom späten Zarenreich bis zur Gegenwart erfassen sollten. Dabei herausgekommen ist ein sehr differenziertes Geflecht von Beurteilungen, die schlussendlich in einer widersprüchlichen Bevorzugung von Brežnev- und Putinzeit gipfelnder ersteren wegen der sozialen Sicherheit, der letzteren wegen der individuellen beruflichen Entfaltungs- und Verdienstmöglichkeiten. In dieser Paradoxie spiegelt sich, dass die Menschen Russlands immer noch stark sowjetfixiert sind, aber eine Variante des Machtstaates bevorzugen, die ihnen mehr individuelle Möglichkeiten zur materiellen Verbesserung ihrer Lebenssituation bietet; demokratische Werte spielen dabei eine nachgeordnete Rolle.

Bei allem Kreisen um die konkreten Ausprägungen von gosudarstvo und gosudarstvennost in der Geschichte Russlands ist den Autorinnen und Autoren (mit gewisser Ausnahme des Beitrags von Ju. S. Pivovarov: Zur historischen Besonderheit der russischen Macht, S. 203214) eines entgangen: Sie heben zwar hervor, dass Staatsbegriff und Staatsverständnis in Russland sich vom Herrscher (gosudar) herleiten, während der westeuropäische Begriff des Staates dem lateinischen status („Stand“,Zustand“,Ordnung“) entspringt und damit etwas Überpersonales meint. Doch die russische Umgangssprache gebraucht für den Staat anstelle von gosudarstvo die viel schärfere Bezeichnung vlast (Macht) und für die Staatsträger vlasti (Machthaber). Wer seinen Staat aber als Macht kategorisiert, sieht sich selber als macht-los. Dieser politische Dualismus von Macht und Ohnmacht, der die ganze russische Geschichte der Neuzeit durchzieht, hat sich im Putin-Russland wieder akzentuiertaber wohl nicht mehr für die Ewigkeit, denn zumindest in den Millionenstädten haben die Macht-losen zeitweise begonnen, sich zu wehren.

Carsten Goehrke, Zürich

Zitierweise: Carsten Goehrke über: Rol’ gosudarstva v istoričeskom razvitii Rossii – The Role of the State in the Historical Development of Russia. Materialy meždunarodnoj naučnoj konferencii budapeštskogo Centra Rusistiki ot 17–18 maja 2010 g. – Materials of the International Historical Conference at the Centre for Russian Studies in Budapest, 17–18 May, 2010. Redaktor Djula Svak – Edited by Gyula Szvák. Budapešt – Budapest: Russica Pannonicana, 2011. 345 S., Abb. = Knigi po rusistike, 27. ISBN: 978-963-7730-63-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Goehrke_Szvak_Rol_gosudarstva.html (Datum des Seitenbesuchs)

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