Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 65 (2017), S. 160-162
Verfasst von: Frank Golczewski
Kai Struve: Deutsche Herrschaft, ukrainischer Nationalismus, antijüdische Gewalt. Der Sommer 1941 in der Westukraine. Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2015. XV, 739 S., 34 Abb., 4 Ktn. ISBN: 978-3-11-036022-6.
Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 schuf eine Zäsur im Ablauf des Zweiten Weltkriegs: Ukrainische Nationalisten begannen darauf zu hoffen, endlich zu ihrer angestrebten Staatlichkeit zu kommen, die Deutschen sahen sich in der eigentlichen ideologischen Auseinandersetzung mit dem „jüdischen Bolschewismus“, gegen den sie einen Vernichtungskrieg führten, und dementsprechend trat die Judenverfolgung in ihre letzte Phase – die rasch eskalierende Ermordung von zunächst zumeist sozial arrivierten Männern, die bald in die völlige Ausrottung der jüdischen Bevölkerung überging. Nicht nur in Ostgalizien, mit dem sich der Verfasser näher befasst, sondern auch in Wolhynien, im Baltikum, in Bessarabien, der Bukowina und Teilen Polens war der deutsche Durchmarsch anfangs aber von Judenpogromen der Einheimischen begleitet. Rächende Identifizierung der Juden mit der kurzen Sowjetherrschaft, deutsche „Auslösung“, schiere Raublust, so sahen die bisherigen Interpretationsversuche des jeweiligen lokalen Judenmordens aus.
Kai Struves Habilitationsschrift ist ein Versuch, in einem mikrohistorischen Zugang die divergierenden Interpretationen durch eine Beständigkeit schaffende Untersuchung zu ersetzen, was weitgehend gelungen ist. Im Theoriebezug setzt sich Struve dankenswerterweise von der modischen Annahme einer Voraussetzungslosigkeit von Gewalt ab und postuliert stattdessen, dass in der Beschreibung der Gewalt (die er als zentrales Mittel der OUN erkennt, S. 90) ihre Kontexte und Motive herausgearbeitet werden können. Den wichtigsten lokalen Kontext erkennt der Verfasser dabei in den nun erfüllbar scheinenden Staatsträumen der Bandera-Fraktion der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN-B).
Die inhaltliche Darstellung beginnt mit dem kurzen ukrainischen Aufstand in Ostgalizien im September 1939, dessen Opfer primär polnische Polizisten und Kolonisten wurden, in denen man die Feinde ukrainischer Entwicklung im Polen der Zwischenkriegszeit sah. Um zu erläutern, wie zwischen 1939 und 1941 an Stelle der Polen Juden zur vorrangigen Feindgruppe der Ukrainer wurden, folgt ein fast 100 Seiten langer Abschnitt, in dem die Kontakte der OUN zu den Deutschen, die geduldete Vorbereitung auf eine politische und Verwaltungsübernahme („Marschgruppen“), die militärische Kooperation, Heydrichs „Pogrombefehl“, aber auch die positiven Erfahrungen im Generalgouvernement beschrieben werden. Sie stützten ukrainische Nationalisten in ihrer Erfolgszuversicht ebenso wie die Wahrnehmung der sowjetischen Herrschaft in Ostgalizien sie in der Gleichsetzung von Juden mit Kommunisten oder Russen allgemein bestärkte.
Während es unstrittig ist, dass die Planer der OUN-B im Frühjahr 1941 eine schnelle Staatsgründung, die Isolierung der Juden und die Liquidierung der Sowjetmacht vorhatten, steht in Frage, ob in der sowjetischen Westukraine vor dem Einmarsch tatsächlich 21.000 Mann in der OUN organisiert waren, wie Struve nach ukrainischen Verfassern anführt (S. 212). Ein derart hoher Organisationsgrad ist zur Stützung seines Hauptarguments erforderlich, dass die Gewalt außer von den Deutschen namentlich seitens der von der OUN-B organisierten Kampfgruppen/Milizen und weniger von der nicht organisierten Bevölkerung ausging.
Die Darstellung der Einzelvorgänge beginnt nicht in Lemberg, sondern in Dobromyl’ und Sokal, wo Erschießungen vor der Eroberung von Lemberg begannen und wo nur in Dobromyl’ das Auffinden der von den abziehenden Sowjets erschossenen Gefängnisinsassen als ‚Grund‘ für massive Judenverfolgungen gelten konnte. Es folgt eine sich an den einzelnen Berichten entlangtastende Darstellung der einzelnen Phasen der Pogrome, Erschießungen und anderen Gewalttaten in Lemberg, den übrigen von der Wehrmacht besetzten Gebieten – unter besonderer Würdigung der bereits im Zusammenhang mit der „Wehrmachtsausstellung“ diskutierten Vorgänge in Zoločiv – sowie in den von Ungarn und zu einem kleinen Teil von slowakischen Truppen besetzten Gebieten.
Wir können hier nur die wichtigsten Erkenntnisse aus Struves Forschung ansprechen:
•Bei den in den Gefängnissen gefundenen Leichen führt Struve deren Entstellungen auf die Genickschüsse und die fortgeschrittene Verwesung zurück, von den Beobachtern wurde sie jedoch als Folge sowjetischer Folter interpretiert, was zu noch größerer Brutalisierung führte.
•Einen Teil der kolportierten angeblichen Beobachtungen wie Kreuzigungen oder das Hineinlegen eines Embryos in den aufgeschnittenen Leib eines Geistlichen verweist er in den Bereich der religiösen Phantasie, wobei die religiöse Basis auch ein motivierendes Element der Judenmassaker gewesen sei. Struve führt dabei auch einander widersprechende Angaben an, die belegen, wie schwierig es ist, sich auf die einzelnen Berichte zu verlassen.
•Das wohl wichtigste neue Ergebnis ist die Identifizierung der SS-Division Wiking, die durch Galizien marschierte, als Verantwortliche für Judenmorde und eine Radikalisierung der Einwohner: Die unbegründete Annahme, ihr Kommandeur sei von (natürlich) jüdischen Heckenschützen erschossen worden, ließ alle etwa noch vorhandenen Hemmungen verschwinden.
•Dass Ungarn in seinem Besatzungsgebiet die Pogrome weitgehend verhinderte, war schon vorher bekannt, Struve kann jedoch belegen, dass dies nur für die Städte galt, während auf dem Land, wo es weder Ungarn noch Deutsche gab, die Morde lokal organisiert wurden und dass die jüdische dörfliche Streubevölkerung teilweise sofort völlig ausgerottet wurde.
•Als wesentliches weiteres Element der Radikalisierung nimmt der Verfasser das Ziel der radikalen ukrainischen Nationalisten an, einen Staat zu gründen. Die OUN-B habe schon zu sowjetischen Zeiten Kampfgruppen gebildet, die bewaffnet waren und neben den Deutschen die treibende Kraft der Morde gewesen seien.
•In diesem Sinne hält Struve auch die Raublust von Bauern für weniger relevant als die nationalistische Euphorie der OUN-Milizen (S. 678).
So wertvoll die Zusammenfassung der Einzelerkenntnisse und die Systematisierung der daraus gezogenen Schlüsse ist, zu einzelnen Aussagen bleiben Zweifel bestehen:
•Kann tatsächlich ein so hoher Organisationsgrad der OUN-B unter den Sowjets angenommen werden, dass sie für die Pogrome unmittelbar bereit stand? Die Ethnisierung der Rache (die Gleichsetzung von Juden mit Kommunisten) konnte schließlich auch ein Versuch der sowjetukrainischen Milizionäre gewesen sein, sich durch die „Abrechnung“ mit den Juden als besonders „national“ auszuweisen und so zu rehabilitieren. Für Litauen dokumentiert Struve dies (S. 682–683), für die Westukraine zieht er es nur selten (S. 534, 648) in Betracht, obwohl etwa einige der Milizionäre sowjetische Uniformen trugen (S. 325) und Waffen hatten.
•Auch wenn sich der Verfasser redlich um Quellenkritik bemüht, seien an manchen Übernahmen Zweifel gestattet. Die Protokolle der sowjetischen Kommissionen, die unmittelbar nach der Befreiung die Verbrechen aufnahmen, entstanden in einem Setting, in dem es sich anbot, die OUN-B (mit deren UPA die Sowjets weiterhin kämpften) für alles verantwortlich zu machen und nicht allzu sehr das ‚einfache Volk‘ zu belasten. Ähnlich taktisch belastet dürften die sowjetischen Verhörprotokolle sein, in denen die Verhörten die Schuld nach Möglichkeit auf andere abzuwälzen versuchten. Aber auch proukrainische, antiukrainische (polnische) und andere Editionen und Berichte hätten an einigen Stellen ein kritischeres Herangehen verdient.
Ungeachtet dieser Monita ist diese erste umfassende Aufarbeitung des galizischen Geschehens im Juni/Juli 1941 eine überaus wichtige und auch sorgfältige, in ihrer Aneinanderreihung grauenhafter Details schwer zu ertragende Kraftleistung, die dazu beiträgt, die Geschehnisse weitgehend aufzuklären. Dazu gehört der Versuch einer Quantifizierung, die Benennung der handelnden Akteure, dann aber auch der Schluss, dass eine Voraussetzung der unzähligen Morde und Quälereien das Vorhandensein organisierter nationalistischer Gruppen sei und (im Widerspruch zu den Thesen von Bogdan Musiał) dass es sich keineswegs allein um eine Wechselwirkung zwischen sowjetischen und deutschen Verbrechen gehandelt habe.
Zitierweise: Frank Golczewski über: Kai Struve: Deutsche Herrschaft, ukrainischer Nationalismus, antijüdische Gewalt. Der Sommer 1941 in der Westukraine. Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2015. XV, 739 S., 34 Abb., 4 Ktn. ISBN: 978-3-11-036022-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Golczewski_Struve_Deutsche_Herrschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)
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