Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 4, S. 626-627

Verfasst von: Frank Grelka

 

Oleksij O. Kurajev: Polityka Nimeččyny i Avstro-Uhorščyny v Peršij svitovij vijni. Ukrajins’kyj naprjamok. Kyjiv: NAN Ukrajiny, Instytut ukrajinskoji archeohrafiji ta džereloznavstva, 2009. 454 S. ISBN: 978-966-02-5478-7.

Die vorliegende Monographie ist aus dem Forschungsprogramm „Ukrajina v konteksti zahal’nojevropejs’koho istoryčnoho procesu v dokumentach i materialach“ (Die Ukraine in der gesamteuropäischen historischen Entwicklung Dokumente und Materialien) des Instituts für Ukrainische Archeographie und Quellenkunde der Nationalen Akademie der Wissenschaften in Kiev hervorgegangen und diskutiert auf Grundlage von deutschen und österreichischen Regierungsdokumenten den ukrainischen Faktor in der Außenpolitik der Mittelmächte während des Ersten Weltkriegs. Der Autor ist ein ausgewiesener Kenner deutscher und österreichischer Archive und rückt in bisher nicht gekannter Breite souverän und ad fontes gehend mittels eines synchron-diachronen Vergleichs minutiös die strategische Bedeutung seines Heimatlandes für die politischen Eliten in Wien und Berlin zu verschiedenen Phasen des Großen Krieges ins rechte Licht. Im ersten Kapitel beschreibt Kurajev die sich wandelnde Bedeutung der Ukraine im System der politischen Interessen von Habsburgern und Hohenzollern seit 1594. Auf dieses Jahr datiert der Verfasser den ersten Versuch der Habsburger, im Rahmen ihrer Korrespondenz mit den Zaporoger Kosaken das ukrainische Element für die eigenen politischen Ziele zu nutzen. Den eigentlichen Problemkontext für die gesamte Argumentation bildet für den Autor der Zeitraum vom Revolutionsjahr 1848 und dem politischen Erwachen der Ukrainer bis zur Julikrise 1914. In den drei Kapiteln des Hauptteils seziert der Verfasser von August 1914 bis zum Ende der Imperien im Herbst 1918 Monat für Monat die Ereignisgeschichte im Hinblick auf die ukrainische Karte im Spiel der Mittelmächte. Vermutlich den Prinzipien des o.g. Forschungsprogramms geschuldet, wird erst in einem Anhang am Ende des Buches der Forschungsstand zusammengefasst. Inkonsistent ist die Struktur der Anmerkungen, die sonst als Endnoten, in der Zusammenfassung hingegen als leserfreundliche Fußnoten angelegt wurden. Der Band wird abgerundet von einem Literatur- und Quellenverzeichnis, das praktischerweise als Dokumentenverzeichnis angelegt ist und dessen potentiellen Umfang die Dokumentensammlung von Hornykiewicz bisher nur erahnen ließ.

Der Autor legt nicht nur eine weitere Studie zur Ukrainepolitik der Mittelmächte während des Großen Kriegs vor, sondern verfolgt in Abgrenzung zu früheren Untersuchungen von Beyer, Baumgart, Borowsky, Remer, Fedyshyn und Mędrzecki vor allem vier Ziele: 1. am Beispiel des Konflikts zwischen den europäischen Mächten den Platz des ukrainischen Volkes in der europäischen Politik zu definieren; 2. damit verbunden den Einfluss der internationalen Politik auf die Entscheidungen in Hofburg und Reichskanzlei offenzulegen; 3. Interdependenzen zwischen militärischer Entwicklung an der Front seit dem Sommer 1915 und der Ukrainepolitik der Zentralmächte zu belegen, und 4. nicht zuletzt einen möglichst umfassenden Überblick zu themenrelevanten Quellen und zur Sekundärliteratur anzubieten. Anhand von zahllosen, durchaus ukrainophilen Absichtserklärungen, deren Absender in den seltensten Fälle die Entscheidungsträger in den Regierungen, sondern in der Regel Vertreter der Wiener und Berliner Diplomatie waren, glaubt der Verfasser eine eigentümliche Asymmetrie von Worten und Taten in Bezug auf die der Ukraine zugedachten Rolle zu erkennen. Folgt man der Argumentation des Autors, so passte sich diese an die jeweilige Kriegskonstellation an, wuchs aber zu keiner Zeit über die Nebenrolle als Objekt des Geschehens hinaus. Mit dem militärischen Erfolg und der Beruhigung der Ostfront zwischen Mai 1916 und der Februarrevolution 1917, so kann der Verfasser nachweisen, wechselte die scheinbar proukrainische Politik Deutschlands und Österreich-Ungarns zu eingeübten Paradigmen von Eroberungsplänen im Osten. Die strategische Bedeutung der Ukraine für die Mittelmächte als Handelsobjekt mit dem bolschewistischen Russland habe sich dann wieder im Brester Frieden vom Februar 1918 gezeigt. Man marschierte nun, um den Buchtitel zu paraphrasieren, wieder in „Richtung Ukraine“. Die formelle Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik verwandelte sich faktisch in eine deutsch-österreichische Besatzungsdiktatur, in der es Wien vor allem um die Wahrung wirtschaftlicher Interessen ging, während Berlin auch eine mit dem Reich verbündete Ukraine im Rahmen einer zukünftigen Neuordnung Osteuropas gegen Polen und Sowjetrussland stärken wollte. Die Stärken des Buches sind paradoxerweise zugleich die Ursache seiner Mängel. Der Darstellung der politisch-strategischen Meinungsverschiedenheiten der Mittelmächte über die Ukraine lässt analytische Stringenz vermissen. Hier wäre eine stärkere Berücksichtigung der deutschen Archivbestände zum Einmarsch in die Ukraine, in denen sich die teils heftigen Auseinandersetzungen zwischen deutschen und österreichischen Militärs und Diplomaten widerspiegeln, wünschenswert gewesen. Die betonte Distanz zu den ukrainischen Akteuren und der weitgehende Verzicht auf die Benutzung der Archive von Zentralrada und Het’man-Ukraine sind ebenso kontraproduktiv. Denn im Spiegel der Akten der Mittelmächte zeigen diese Unterlagen, wie die Ukrainer ihre Spielballrolle perfektionierten und, um mit Frank Golczewskis neuester Studie zu schließen, wie Ukrainern und Deutschen nach den Erfahrungen der Zeit zwischen 1914 und 1918 „[…] die deutsch-ukrainische Option als sinnvolle politische Konstellation“ der Zukunft erscheinen ließ.

Frank Grelka, Frankfurt/Oder

Zitierweise: Frank Grelka über: Oleksij O. Kurajev: Polityka Nimeččyny i Avstro-Uhorščyny v Peršij svitovij vijni. Ukrajins’kyj naprjamok. Kyjiv: NAN Ukrajiny, Instytut ukrajins’koji archeohrafiji ta džereloznavstva, 2009. 454 S. ISBN: 978-966-02-5478-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Grelka_Kurajev_Polityka.html (Datum des Seitenbesuchs)

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