Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 271-274

Verfasst von: Malte Griesse

 

Vesti-Kuranty 1656 g., 1660–1662 gg., 1664–1670 gg. Čast’ 1: Russkie teksty [„Die Vesti Kuranty“ der Jahre 1656, 1660–1662, 1664–1670. Teil 1: Die russischen Texte]. Izdanie podgotovleno V. G. Dem’janovym pri učastii I. A. Kornilovoj. Zaveršenie raboty nad izdaniem i podgotovka k pečati: E. A. Podšivalova, S. M. Šamin. Pod red. A. M. Moldovana i Ingrid Majer. Moskva: Rukopisnye pamjatniki Drevnej Rusi, 2009. 856 S. ISBN: 978-5-9551-0326-6.

Vesti-Kuranty 1656 g., 1660–1662 gg., 1664–1670 gg. Čast’ 2: Inostrannye originaly k russkim tekstam [„Die Vesti Kuranty“ der Jahre 1656, 1660–1662, 1664–1670. Teil 2: Die ausländischen Originale zu den russischen Texten]. Issledovanie i podgotovka tekstov Ingrid Majer. Moskva: Jazyki slavjanskich kul’tur, 2008. 700 S., Abb. ISBN: 978-5-9551-0275-7.

Viele Historiker sehen in den Nachrichten aus dem Ausland, die man im 17. Jahrhundert am Moskauer Hof aus westlichen Zeitungen zusammenstellte, einen unmittelbaren Vorläufer der unter Peter I. zu Beginn des 18. Jahrhunderts gegründeten (ersten) russischen Zeitung „Vedomosti“. Ingrid Maier, maßgebliche Herausgeberin des jüngsten Bandes dieser „Vesti-Kuranty“, bewertet diese Sichtweise skeptisch. Die Hauptmerkmale einer Zeitung seien Aktualität, Periodizität, Universalität und Öffentlichkeit. Auch wenn die ersten drei Kriterien zutreffen mögen, ist der Faktor Öffentlichkeit im Falle der „Vesti-Kuranty“ definitiv nicht gegeben. Die Nachrichten wurden aus westlichen Zeitungen ausgewählt und übersetzt, um dann dem Zaren im engsten Kreise der führenden Vertreter seines Außenamtes (posolskij prikaz) persönlich vorgelesen zu werden. Breitere Leserkreise sollten also nicht erreicht werden: Es handelte sich um eine Arkan-Angelegenheit.

Allerdings geht Maier in einem neueren Artikel zu Peters I. „Vedomosti“ noch einen Schritt weiter, indem sie auch ihnen den Status einer Zeitung abspricht: Die Blätter erschienen unregelmäßig und häufig in so geringer Auflage, dass auch hier von Öffentlichkeit nicht die Rede sein könne (selbst wenn Peters Erlasse das zu intendieren scheinen). Dass die „Vedomosti“ im Unterschied zu den „Vesti-Kuranty“ gedruckt wurden, sei nicht entscheidend: Auch im übrigen Europa gab es noch bis ins frühe 19. Jahrhundert handschriftliche Zeitungen, die sich allerdings oft dadurch auszeichneten, dass sie über Themen berichten konnten, die in gedruckten Zeitungen aufgrund der größeren Zugriffsmöglichkeiten der Zensur ausgespart bleiben mussten. Daraus ergibt sich für Maier eine Kontinuität des russischen Nachrichtenwesens unterhalb der Schwelle zur Öffentlichkeit, eine Kontinuität, die die Peterzeit mit einschließt. (Siehe dazu Ingrid Maier: Pervaja russkaja pečatnaja gazeta i ee inostrannye obrazcy, in: La Russie et les modèles étrangères. Textes réunis par Serge Rolet. Lille 2010, S. 4358, in der Manuskriptfassung abrufbar unter der Adresse http://www.moderna.uu.se/digitalAssets/28/28422_Lille.rtf, gesehen 31.10.2011 von der Homepage der Historikerin auf http://www.moderna.uu.se/slaviska/ingrid/.)

Die Relevanz der Vesti-Kuranty und den Nutzen dieser großangelegten Quellenedition mindert das nicht im Geringsten. In seiner Einleitung zum ersten Teilband illustriert Stepan Šamin mit einem Zitat aus Meyerbergs Moskau-Bericht eindrücklich, welches Gewicht die ausländischen Zeitungen am Zarenhof hatten. Meyerberg beklagt sich über die Flatterhaftigkeit seiner russischen Verhandlungspartner, die daher rühre, dass sie sich stoisch an die wechselhaften Berichte niederländischer und preußischer Merkurien hielten, die sie, zumindest in außenpolitischen Angelegenheiten, befragten wie das Orakel von Delphi. Trotz aller Polemik des kaiserlichen Diplomaten lässt sich die Bedeutung der westlichen Zeitungen als Informationsquelle für den Moskauer Hof kaum hoch genug veranschlagen.

Der in zwei Teilen veröffentlichte sechste Band der „Vesti-Kuranty“ mit den Nachrichten der Jahre 16601670 unterscheidet sich von den Vorgängern nicht nur durch seinen immensen Umfang, sondern auch durch die Anlage. Erstmals haben die Herausgeber systematisch nach den Vorlagen gesucht, von denen die russischen Übersetzungen angefertigt wurden, und diese, soweit auffindbar, im zweiten Teilband mit­ediert, versehen mit ausführlichen Kommentaren und Konkordanzen. Das allein schon war eine Herkulesarbeit, bedenkt man, dass die im Moskauer RGADA archivierten Übersetzungen keine Quellenangaben enthalten und bei weitem nicht alle Vorlagen aus den Archiven des posolskij prikaz erhalten sind. So hat die Arbeit an dem Band jahrelange Recherchen auch in den Zeitungsarchiven Westeuropas (z.B. in Stockholm, Bremen, Amsterdam, London) erfordert. Häufig sind in den Kompilationen Berichte aus unterschiedlichen Zeitungen aneinandergereiht und es werden nur Ausschnitte aus den ursprünglichen Berichten wiedergegeben, manchmal auch mit erklärenden Zusätzen. Das erschwerte die Suche nach den Vorlagen erheblich, zumal häufig mehrere sehr ähnliche Berichte aus unterschiedlichen Zeitungen (und Ländern) in Frage kamen. Zu dem Nebeneinander von julianischem und gregorianischem Kalender in den Originalen kommen nicht selten gröbere Fehler in der Datierung der Übersetzungen, sodass einige Dokumente aus dem vorangegangenen Band hier noch einmal reproduziert werden, mit entsprechendem Sachkommentar und korrigierter Datierung, die nur mithilfe der Vorlagen möglich wurde. (Die als Dokument 0 veröffentlichten Übersetzungen von 1656, die aus dem eigentlichen Rahmen der 1660er Jahre herausfallen, hatten die Herausgeber des  fünften Bandes jedoch schlicht übersehen.)

Wie schon in den vorherigen Bänden widmen die Herausgeber linguistischen Fragen besondere Aufmerksamkeit: So haben sie – neben Personen- und geographischem Index – auch ein ausführliches Wortverzeichnis erstellt, das vom Umfang her etwa dem des gesamten  fünften Bandes der „Vesti-Kuranty“ entspricht und in dem alle Schreibvarianten ein und desselben Wortes mit Verweisen auf die Belegstellen aufgeführt sind. Der Band ist insofern auch als Ergänzung zum „Slovar’ russkogo jazyka IX – XVII vv.“ anzusehen und kann durchaus als Wörterbuch verwendet werden. Das bietet sich insbesondere für die Anfangsbuchstaben T-Ja an, für die die Bände des „Slovar’“ immer noch nicht vorliegen. Hinter diesem linguistischen Schwerpunkt steht nicht nur die disziplinäre Herkunft der Herausgeber, sondern auch die These, dass die Zeitungsübersetzungen des 17. Jahrhunderts maßgeblich zur Herausbildung der modernen russischen Literatursprache beigetragen haben. Die Möglichkeit des Vergleichs mit den Originalen eröffnet dabei völlig neue Forschungsperspektiven (auch wenn es keinen Index für die Originale gibt) – und das nicht nur für Linguisten. (Insbesondere für einen linguistischen Blickwinkel vgl. die außerordentlich ausführliche Besprechung von L. I. Sazonova in: Izvestija RAN. Serija literatury i jazyka, 69 (2010), No. 4, S. 40–47.) Anhand des Vergleichs mit den Vorlagen lässt sich ersehen, welche Informationen für den Hof potentiell von Interesse waren und was eher als unwichtig erachtet wurde, denn die Originale sind weitgehend ungekürzt veröffentlicht – nur für längere von den Übersetzern weggelassene Passagen wird eine kurze Zusammenfassung geliefert.

Dass die beiden Teilbände jeweils separate Einleitungen haben, liegt wohl an der ungewöhnlichen Publikationsgeschichte nach dem Tod des Hauptherausgebers der vorhergehenden Bände Dem’janov. Offenbar gab es erhebliche Schwierigkeiten mit der Aufarbeitung der von ihm bereits transkribierten Materialien des posol’skij prikaz, sodass der erste Teils mit den Übersetzungen erst ein Jahr nach dem zweiten Teil mit den westlichen Originalen veröffentlicht werden konnte. Dabei ist die Einleitung zum  zweiten Teilband von Ingrid Maier mit ihren mehr als 200 Seiten kaum anders als monographisch zu nennen. Die Herausgeberin erläutert weitaus mehr als nur die editorischen Prinzipien der herausgegebenen Dokumente. Vielmehr liefert sie einen umfassenden historischen Abriss sowohl über die Entstehung und Entwicklung des Zeitungswesens in Europa als auch über den Bezug der Zeitungen und die Praxis der Zeitungsübersetzung im posolskij prikaz. Damit behandelt sie das gesamte 17. Jahrhundert und  präsentiert nützliches bzw. notwendiges Hintergrundwissen – auch für die von den vorangegangenen Bänden behandelten Jahrzehnte, in denen das Moskauer Gesandtschaftsamt noch sehr unregelmäßig mit westlichen Zeitungen versorgt wurde. Auch wenn sich eine beständige Zunahme des Materials verzeichnen lässt, kommt es zu einem qualitativen Sprung, als man 1665 (also genau in der Mitte der von diesem sechsten Band abgedeckten Dekade) eine reguläre Postverbindung über Riga einrichten konnte, die eine Art Abonnement-System ermöglichte. Während die Übersetzer – wie Maier zeigt, meist ausländische Agenten in Moskauer Diensten, vielfach auch Immigranten der zweiten Generation – vorher eher dazu neigten, Korrespondenzen, und in manchen Fällen sogar ganze Zeitungen, möglichst vollständig zu übersetzen, sahen sie sich immer mehr dazu genötigt, durch ihre Kürzungen eine Vorauswahl des Stoffes zu treffen. Ihr Einfluss auf die politischen Entscheidungsträger sollte also nicht unterschätzt werden. Neben Berichten über das Moskauer Reich, ungewöhnlichen Naturereignissen und außenpolitischen Fragen, die Moskau mehr oder weniger direkt betrafen, wie die Bedrohung (Ost-)Europas durch die Osmanen (die gerade die Habsburger im Moskauer Reich immer wieder einen Bündnispartner für eine christliche Verteidigungsallianz suchen ließ), wurden auch innenpolitische Ereignisse anderer Länder zu Dauerthemen in den Nachrichten-Kompilationen. Bei der Frage nach der polnischen Thronfolge bzw. der Königswahl und bei den Auseinandersetzungen der Zaporoger Kosaken mit der polnischen Adelsrepublik nimmt das nicht Wunder, schließlich war Moskau hier unmittelbar involviert. Erstaunlicher erscheint z. B. das große Interesse an der sozialen Bewegung um den jüdischen falschen Messias Zabbatai Zwi im Osmanischen Reich (1665–1666). Dazu wurden v.a. in den Niederlanden, in Preußen und in Polen ganze Broschüren angefertigt, die man im Gesandtschaftsamt teilweise sogar vollständig übersetzt hat. Ob diese gesteigerte Anteilnahme des Zarenhofs auf das historische Trauma der Smuta mit den vielen falschen Zaren zurückzuführen ist oder aber auf die zeitgleiche Erfahrung mit dem Widerstand der Altgläubigen oder ob man schlicht bei dem mitfiebern wollte, was ganz Europa in Atem  hielt, sei dahingestellt. Letzteres tat man offenkundig im Falle der Seeschlachten zwischen Engländern und Niederländern, den Auseinandersetzungen zwischen Venezianern und Osmanen um Kreta sowie auch bei politisch letztlich belanglosen Kuriosa, die das Bedürfnis zeigen, auch am Klatsch der westlichen Länder zu partizipieren.

Bei aller Zunahme der Zirkulation von Nachrichten blieben die Hauptquellen für den posolskij prikaz während des gesamten 17. Jahrhunderts deutsch(sprachig)e und niederländische Blätter. Aus polnischsprachigen Zeitungen wurde wenig übersetzt (wohl aber aus deutschsprachigen aus Polen), und die eine vertretene lateinische Zeitung fällt zweifelsohne unter die Kuriosa. Dieser Schwerpunkt hatte zum einen mit dem Gewicht und der Popularität der deutschen – und in abgeschwächter Form auch der niederländischen – Zeitungen auf der europäischen Bühne insgesamt zu tun, teilweise aber auch mit den Sprachkompetenzen der Übersetzer des posolskij prikaz. So stellt Maier fest, dass die Qualität der Übersetzung aus dem Lateinischen deutlich gegenüber denen aus dem Deutschen und dem Niederländischen abfällt.

Insgesamt bleibt zu hoffen, dass diese neue aufwendige Ausgabe der „Vesti-Kuranty“ für die kommenden Bände Standards setzt. Denn erst sie schafft eine Grundlage für zukünftige Untersuchungen zur länderübergreifenden Wissens- und Informationszirkulation und vermag so einen maßgeblichen Beitrag zu einer Verflechtungsgeschichte des frühneuzeitlichen Europas zu leisten, die das (vorpetrinische) Moskauer Reich mit einbezieht.

Malte Griesse, Bielefeld

Zitierweise: Malte Griesse über: Vesti-Kuranty 1656 g., 1660–1662 gg., 1664–1670 gg. Čast’ 1: Russkie teksty [„Laufende Nachrichten“ der Jahre 1656, 1660–1662, 1664–1670. Teil 1: Die russischen Texte]. Izdanie podgotovleno V. G. Dem’janovym pri učastii I. A. Kornilovoj. Zaveršenie raboty nad izdaniem i podgotovka k pečati: E. A. Podšivalova, S. M. Šamin. Pod red. A. M. Moldovana i Ingrid Majer. Moskva: Rukopisnye pamjatniki Drevnej Rusi, 2009. ISBN: 978-5-9551-0326-6; Vesti-Kuranty 1656 g., 1660–1662 gg., 1664–1670 gg. Čast’ 2: Inostrannye originaly k russkim tekstam [„Laufende Nachrichten“ der Jahre 1656, 1660–1662, 1664–1670. Teil 2: Die ausländischen Originale zu den russischen Texten]. Issledovanie i podgotovka tekstov Ingrid Majer. Moskva: Jazyki slavjanskich kul’tur, 2008. ISBN: 978-5-9551-0275-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Griesse_SR_Vesti-Kuranty_1656.html (Datum des Seitenbesuchs)

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