Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 3, S. 434‒436

Verfasst von: Tobias Grill

 

Dirk Sadowski: Haskala und Lebenswelt. Herz Homberg und die jüdischen deutschen Schulen in Galizien 1782–1806. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010. 437 S., 1 Abb., 2 Ktn., 5 Tab., 1 Graph. = Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, 12. ISBN: 978-3-525-36990-6.

Dirk Sadowskis Monographie zu Herz Homberg und den jüdischen deutschen Schulen in Galizien (17821806) ist aus einer Dissertation hervorgegangen, die 2007 an der Universität Leipzig eingereicht und schließlich 2008 verteidigt wurde. In seinem Werk setzt sich Sadowski mit einem Kapitel der jüdischen Aufklärungsbewegung (Haskala) und den staatlichen Versuchen, die Judenschaft eines österreichischen Kronlandes zu modernisieren bzw. für das Reich gemäß reformabsolutistischen Ideen nutzbar zu machen, auseinander. Konkret geht es um den in Böhmen geborenen jüdischen Aufklärer (Maskil) Herz Homberg einen ehedem engen Vertrauten von Moses Mendelssohn , der seit 1787 als Oberaufseher über die kurz zuvor gegründeten jüdischen deutschen Schulen in Galizien fungierte. Freilich ist Sadowskis Fragestellung nicht auf den unmittelbaren biographischen Zusammenhang begrenzt, sondern nimmt vielmehr den größeren Kontext dieses staatlichen Schulnetzes für die galizischen Juden in den Blick. Seine Untersuchung, die in methodischer Hinsicht das Paradigma der Sozialdisziplinierung dem Lebensweltansatz gegenüberstellt, basiert auf zwei Betrachtungsebenen: Zum einen auf einer Makroebene, die sich mit der praktizierten Aufklärung, dem Ineinandergreifen von staatlichem und maskilischem Diskurs auseinandersetzt, sowie auf einer Mikroebene, die der Schulwirklichkeit und der Reaktion der jüdisch-galizischen Lebenswelt auf die Ordnungs- und Disziplinierungsversuche seitens des Staates gewidmet ist.

Die jüdischen deutschen Schulen in Galizien waren kein Nebenschauplatz, sondern vielmehr Teil eines größeren staatlichen Programms der Volkserziehung im Habsburgerreich Maria Theresias und Josephs II., wobei „die Erfassung, moralische Disziplinierung und Produktivierung möglichst breiter Bevölkerungsschichten durch die Institution Schule“ (S. 61) im Zentrum dieser Reformbemühungen stand. Dies war im Übrigen keineswegs auf das Habsburgerreich beschränkt. Unter anderem gingen auch im Zarenreich die Bemühungen in eine ganz ähnliche Richtung, wobei das reformierte österreichische Schulsystem, das sogenannte „Normalschulwesen“, zunächst als Vorbild galt.

Im Sinne des reformabsolutistischen Utilitarismus-Gedankens weitete Joseph II. 1781 die Normalschulpflicht auch auf die Juden aus. Eines der damit verbundenen Hauptanliegen war es, auf diese Weise die Landessprache, in der Regel Deutsch, unter der jüdischen Bevölkerung zu verbreiten. Insofern beanspruchte der Unterricht im deutschen Lesen und Schreiben den überwiegenden Teil der Unterrichtswoche an den jüdischen Normalschulen in Galizien, während der Unterricht in religiösen Gegenständen, wenn man vom Moralunterricht absieht, ausgeklammert blieb. Fundamentaler Unterschied zu den Schulen für andere Bevölkerungsgruppen für Polen und Ruthenen war der Umstand, dass man den Gebrauch des Jiddischen als Alltagssprache durch die „reine deutsche Aussprache“ verdrängen wollte. Damit kam eine der reformabsolutistischen Obrigkeit und den Maskilim gemeinsame Ansicht zum Ausdruck, wonach Jiddisch ein korrumpiertes und verdorbenes Deutsch war, das die ganze sittliche Verwerflichkeit der Sprecher hörbar werden ließ. Da das Ziel des Staates wie auch der jüdischen Aufklärer darin bestand, die Juden zu nützlichen Staatsbürgern zu machen, sie der „Regeneration“ zuzuführen, musste folgerichtig auch die als „Jargon“ verpönte Umgangssprache der Juden im öffentlichen wie privaten Verkehr bekämpft werden, zumal ihr von maskilischer Seite ein mangelndes Ausdruckspotential für religiöse und moralische Sachverhalte unterstellt wurde. Freilich war mit der impliziten Bekämpfung des Jiddischen letztlich aber auch die Hoffnung der Obrigkeit auf eine weitgehende Assimilierung der jüdischen Untertanen verbunden.

Grundsätzlich muss dabei allerdings betont werden, dass mit der Einrichtung der staatlichen jüdischen deutschen Schulen keine Ersetzung des traditionellen jüdisch-religiösen Unterrichts verbunden war. Diese Sphäre blieb auch weiterhin der Aufsicht der Ge­meindeeliten vorbehalten. Damit entstand eine „Dualität der Erziehungssysteme“ (S. 74), ein Nebeneinander von traditionellen jüdischen Elementarschulen, den Chadarim, und staatlichen jüdischen Normalschulen. Dennoch unternahm Homberg schon kurz nach Amtsantritt als Oberaufseher über die jüdischen deutschen Schulen in Galizien den Versuch, die Chadarim in Anlehnung an maskilische Prinzipien zu reformieren. Trotz seiner eindeutigen Kritik am traditionellen Unterricht im Cheder machte Homberg im Großen und Ganzen nur maßvolle Reformvorschläge, allerdings verbarg er, wie Sadowski anmerkt, einen Teil seiner wirklichen Absichten. Um nicht den Widerstand der traditionsorientierten galizischen Juden zu provozieren, nahm er in das von ihm verfochtene Curriculum auch die traditionellen Unterrichtsgegenstände Bibel, Mischna, Gemara, Talmudkommentare auf, während er auf die Erwähnung von Mendelssohns deutscher Pentateuchübersetzung oder dessen Kommentar, dem Bi’ur, tunlichst verzichtete. Homberg ging es vordergründig in erster Linie um eine angemessene Organisation und nicht so sehr um eine Erneuerung der Inhalte.

Doch auch dies konnte die galizischen Rabbiner, die Homberg 1788 durch ein Sendschreiben unter enormen Druck gesetzt hatte, kaum beeindrucken. Sie weigerten sich nicht nur, die Chadarim zu reformieren, sondern auch in zunehmendem Maße, ihre Kinder in die jüdischen deutschen Normalschulen zu schicken. Dies begründeten sie zum einen damit, dass ihren Kindern beim Besuch dieser Lehranstalten nicht ausreichend Zeit für die religiöse Unterweisung (in den Chadarim) zur Verfügung stehe, zum anderen aber auch mit der mangelnden religiösen Observanz der Lehrer der jüdischen deutschen Schulen. Ob Letzteres tatsächlich zutraf oder nur als Vorwand diente, ist schwer zu beantworten. Laut Sadowski lassen sich aus den Quellen nur wenige konkrete Fälle rekonstruieren, wobei sich, dies darf nicht übersehen werden, „die Klagen vor allem auf das nichttraditionskonforme Verhalten der Lehrer im außerschulischen Alltag“ (S. 257) bezogen. Wie dem auch sei, beide Argumente sollten auf jeden Fall den Eindruck erwecken, dass die Normalschulen zu einer Lockerung der religiösen Bindung, zu einer Abkehr vom Glauben beitrugen.

Bereits im Mai 1785, also noch vor Hombergs Amtsantritt, war mit Einführung des josefinischen „Judensystems“ für Galizien die Verpflichtung, die jüdischen deutschen Normalschulen zu besuchen, statuiert und das Fernbleiben von der Schule mit Strafen und Einschränkungen belegt worden. So wurden die Zöglinge in den Chadarim nur noch dann zum Talmud-Unterricht zugelassen, wenn sie nachweisen konnten, dass sie die Normalschule besucht hatten. Eine Nichtbeachtung dieser Vorschrift konnte seit Verkündung des galizischen Judenpatents im Mai 1789 zu dreitägigem Arrest sowohl des Vaters als auch des Talmudlehrers führen. Zudem mussten nach einer Verordnung vom April 1786 heiratswillige Juden vor ihrer Verheiratung das Zeugnis einer jüdischen deutschen Schule vorweisen.

Doch auch diese restriktiven Maßnahmen konnten den Widerstand der traditionsorientierten galizischen Juden gegen die Normalschulen und den damit verbundenen massiven Eingriff in ihre Lebenswelt nicht brechen. Ihre „lebensweltlichen Gegenstrategien“, wie es Sadowski nennt, waren äußerst effektiv. Der staatliche Versuch der Sozialdisziplinierung der galizischen Juden durch den verordneten Schulbesuch scheiterte einerseits vor allem an der vielfältigen Bestechlichkeit der Beamten und Lehrer vor Ort, andererseits aber auch an dem Umstand, dass das Sanktionsrecht entgegen Hombergs Willen auch weiterhin in den Händen der Gemeindevorsteher verblieb, die in der Praxis wenig Engagement zeigten, die von ihnen geforderte Bestrafung der Eltern oder Chederlehrer (Melamdim) tatsächlich durchzuführen. Damit war das Schicksal dieser Schulen besiegelt.

Sowohl die traditionsorientierten galizischen Juden als auch ein Teil der Normalschullehrer warfen Homberg bald Amtsanmaßung und -missbrauch wie auch Bestechlichkeit vor. Einer bevorstehenden Untersuchung all dieser Vorwürfe entzog sich Homberg 1799 durch die Flucht nach Wien. Zeit seines Lebens sollte er nicht mehr nach Galizien zurückkehren. Die von ihm beaufsichtigten jüdischen deutschen Schulen fristeten noch bis 1806 ihr kümmerliches Dasein und wurden dann aufgelöst oder in das allgemeine Volksschulwesen integriert.

Der unmittelbare Anlass für das Ende der jüdischen deutschen Schulen dürfte in dem Umstand gelegen haben, dass man den gut ausgestatteten jüdischen Schulfonds für das allgemeine Volksschulwesen verwenden wollte, das chronisch unterfinanziert war. Der tiefere Grund für diesen Schritt war allerdings, so Sadowskis überzeugende Interpretation, nicht so sehr der lebensweltliche Widerstand der jüdischen Bevölkerung bzw. der Wunsch nach einem Zugriff auf die Finanzen des jüdischen Schulfonds, sondern die durch Französische Revolution und Jakobinerherrschaft ausgelöste gegenaufklärerische Reaktion der Wiener Regierung. Die Furcht vor ähnlichen Entwicklungen im eigenen Reich wirkte sich nicht zuletzt auch auf das Schulwesen aus, das nun als vermeintlicher Hort von Aufklärung und Freidenkertum und damit als staatsgefährdend wahrgenommen wurde. Dies betraf ebenfalls die jüdischen deutschen Schulen in Galizien, glaubte man doch in Wien,dass in ihnen der Geist der Aufklärung und der natürlichen Religion wirke und Aufruhr stifte, wenngleich, wie Sadowski betont,Homberg bereits 1799 das Land verlassen hatte und die Schulen seitdem in Agonie lagen(S. 377).

Sadowskis Werk besticht durch eine breite Quellen- und Literaturbasis; die methodischen Ansätze sind immer präsent, werden aber nicht überstrapaziert, sondern in hervorragender Weise dazu eingesetzt, der Fragestellung gerecht zu werden. Der Autor hat ein äußerst lesenswertes, in jeglicher Hinsicht überzeugendes Buch vorgelegt, dem eine baldige Übersetzung ins Englische zu wünschen wäre. Wer sich mit dem Wirken Herz Hombergs in Galizien und den dortigen jüdischen deutschen Schulen beschäftigen möchte, kommt an Sadowskis Standardwerk nicht vorbei.

Tobias Grill, München

Zitierweise: Tobias Grill über: Dirk Sadowski: Haskala und Lebenswelt. Herz Homberg und die jüdischen deutschen Schulen in Galizien 1782–1806. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010. 437 S., 1 Abb., 2 Ktn., 5 Tab., 1 Graph. = Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, 12. ISBN: 978-3-525-36990-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Grill_Sadowski_Haskala_und_Lebenswelt.html (Datum des Seitenbesuchs)

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